Predigt nach den Terroranschlägen - 16.9.2001 Liebe Gemeinde! Heute ist manches anders als noch vor ein paar Tagen! Die Welt, die sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten ohnehin so rasch (und manchmal beängstigend) verändert hat, daß wir sie kaum noch begreifen können, hat am vergangenen Dienstag in nur wenigen Stunden für uns ein sehr düsteres, erschreckendes Gesicht bekommen. Wo wir nach Frieden ausschauen, sehen wir jetzt die grausige Fratze der Gewalt und des Terrors. Wo wir nach Zeichen und Worten des Verständnis' und der Ge- rechtigkeit zwischen den Völkern suchen, wird der Ruf nach Vergeltung und Rache immer lauter. Wir sehnen uns nach einem Ende der täglichen Nachrichten von Krieg und Haß zwischen den Natio- nen und Religionen und müssen uns jetzt darauf einstellen, daß sie in Zukunft immer noch häufiger zu hören sein werden. Wir sind verstört, aufgerüttelt und verunsichert. Wir wünschen uns in diesem Gottesdienst ein Wort, das uns trösten kann. Wir hoffen auf Hilfe in der Not dieser Tage, auf einen Ausblick, auf ein wenig Licht in all der Finsternis. Wir möchten Zuflucht finden bei Gott und wir spüren doch, daß er uns über den Ereignissen der vergangenen Tage selbst fragwürdig, dunkel und fremd geworden ist. Hören wir da hinein ein Wort aus der Bibel. Es ist die Losung des Tages nach den schrecklichen Terroranschlägen der vergangenen Woche gewesen, die Tageslosung zum Mittwoch, dem Tag, an dem ich und viele nach dem ersten Schock angefangen haben, nach einem deutenden Wort, einem tröstlichen Gedanken in der Heiligen Schrift zu suchen. Es ist ein Vers aus Jesaja, im 33. Kapitel: Textlesung: Der Herr ist unser Richter, der Herr ist unser Meister, der Herr ist unser König; der hilft uns! Jesaja 33,22 Der Herr ist unser Richter... Ich mußte an die Täter denken, auch wenn ich sie gar nicht kenne, ja nicht einmal weiß wer oder woher sie sind, an welchen Gott sie glauben und wie sie, was sie getan haben, mit ihrem Glauben vereinbaren können. Aber ich weiß und ich habe gesehen, wie in den Palä- stinensergebieten und einigen arabischen Städten des Nahen Ostens Menschen auf der Straße ge- tanzt haben, als in den Nachrichten die Bilder der Verwüstung aus New York und Washington ge- sendet wurden. Und ich habe ihre Jubelschreie gehört: "Allah ist groß!" Und da frage ich mich schon, war es nicht immer ein wenig vorschnell, wenn ich den Vater Jesu Christi leichthin mit dem Gott des Islam gleichgesetzt und immer gedacht habe: Es sind wohl zwei Namen, aber nur ein Gott? Kann denn der Gott der Liebe, an den wir Christen glauben und zu dem wir uns jetzt in unserem Er- schrecken flüchten, derselbe Gott sein, dessen Name für das Gelingen von Anschlägen und derart grausigem Terror gepriesen wird? Aber bevor wir uns jetzt über Islamgläubige entrüsten: Haben sich nicht Menschen aller Religionen - auch wir Christen! - immer wieder einen Gott nach ihrem Bild gemacht, einen Gott, der segnen soll, was Menschen wollen, der gutheißen soll, wenn Staaten Krie- ge führen, ja, der gar mit denen sein und die beschützen soll, die Leid, Tod und Schrecken über Menschen und ganze Völker bringen. Der Herr ist unser Richter... Gilt das jetzt nicht auch den Tätern, wer sie auch sind, und auch denen im Hintergrund, die sie für den Terror ausgebildet und für ihre schrecklichen Taten fanatisiert haben? Und können wir Christen uns dieses Gericht anders vor- stellen als Gottes klares Nein zu solch feiger und unüberbietbar brutaler Gewalt - ob dieser Gott nun "Unser Vater" heißt oder Allah? Der Herr ist unser Richter... Ja! Und er wird auch der Richter der Täter, der Drahtzieher und aller sein, die über die Anschläge gejubelt und ihren Gott für Mord und Verbrechen in Anspruch genommen haben. Der Herr ist unser Richter... Aber wir Christen wollen vor diesem Wort auch an uns selbst den- ken. Die Spur der Versuche, Gott für die eigenen politischen, militärischen oder religiösen Ziele ein- zuspannen, zieht sich auch durch unsere Geschichte - und oft genug ist sie mit Blut gezeichnet: Sie führt - um nur wenige Beispiele zu nennen - über die Aufschrift auf dem Koppelschloß der deut- schen Soldaten in den Weltkriegen, "Gott mit uns", bis zum seit Jahrzehnten schwelenden Konflikt in Nordirland, der inzwischen nicht einmal mehr vor Kindern halt macht, die auf ihrem Schulweg an- gegriffen werden, weil sie katholisch sind. Und sie führt von den Stammtischgesprächen, die sich über die "guten Kirchgänger" und "Kanzelschwalben" lustig machen bis hin zu den Christen aus frömmeren Kreisen, die sich mit uns (wirklich: mit uns!) niemals an einen gemeinsamen Abend- mahlstisch stellen würden. Der Herr ist unser Richter... Und wer wird bestehen können, in diesem Gericht? Der Herr ist unser Meister, so heißt es bei Jesaja weiter. Da kommen mir die in den Sinn, die jetzt darüber nachdenken, wie sie auf die Anschläge reagieren sollen: Der Präsident der Vereinigten Staa- ten zuerst, aber auch seine Berater, Minister und Generäle. Ob der höchste Repräsentant einer nach außen hin doch sehr christlichen Nation wohl genug Mut und innere Überzeugung haben wird, sich den Rufen nach Rache und Vergeltung zu verschließen? Wird er, der die Menschen seines Landes zum Gebet für die Opfer und ihre Angehörigen aufgerufen hat, die Demut durchhalten können, die alle Rache, alle Strafe in Gottes Hand legt und so diesem Wort folgt: Der Herr ist unser Meister! Oder wird er nicht, sobald die Täter und Hintermänner bekannt sein werden, den militärischen Ge- genschlag befehlen und damit die Strafe und die Vergeltung, den Fortgang und die Verantwortung für alles, was sich dann entwickelt, in die eigenen Hände nehmen? Der Herr ist unser Meister. Werden sich die Verbündeten der USA, auch unsere Regierung, die sich öffentlich an die Seite der "amerikanischen Freunde" gestellt hat, ihrer "Christen"-pflicht bewußt sein, daß sie zu maßvollen Reaktionen raten, zu politischen, dem Frieden dienenden Aktionen und nicht zu militärischer Gewalt, bei der keiner gewinnen kann, der Friede schon gar nicht? Der Herr ist unser Meister! Wenn wir das alle beherzigen wollten, dann legt es auch uns auf, daß wir jetzt nicht in Hetzreden verfallen, nicht der Gegengewalt das Wort reden und nicht Schuldige unter denen suchen, die islamgläubig sind oder auch nur aus Ländern oder Regionen stammen, die wir mit der Herkunft der Täter verbinden. Wir werden vielmehr gut hinhören und beachten, daß jetzt überall in der Welt Muslime sich von den Greueltaten distanzieren und betonen, daß auch sie an ei- nen Gott glauben, der die Liebe will und die Toleranz fordert und nicht den Tod unschuldiger Men- schen. Der Herr ist unser Meister! Wenn er es in Zeiten der Ruhe, der Sicherheit und der guten Zukunftsaussichten ist, dann ist er es noch viel mehr, wenn uns die Ereignisse, die wir erleben und erleiden müssen, in Angst und Schrecken stürzen und alles aus den Fugen zu geraten scheint. Nur er kann helfen. Wir aber müssen die Hilfe und alles Handeln vor ihm bedenken, im Gebet mit ihm be- sprechen und alles in seine Hände geben. Der Herr ist unser König, sagt Jesaja. Da denke ich an die engsten Angehörigen der noch unge- zählten Opfer, an ihr grenzenloses, schier unerträgliches Leid. Die vielen Lebensläufe, die von einer Minute auf die andere abgeschnitten wurden, die Pläne, die Eheleute und Familien hatten, die sich nie mehr verwirklichen werden, die verlassenen Kinder, die Einsamkeit so vieler Ehegatten, die nun allein sind, die keinen Abschied nehmen konnten und die jetzt oft noch nicht einmal weinen können... Der Herr ist unser König! Was wünschte ich diesen gequälten, verstörten Menschen, daß sie jetzt nicht vergessen, was sie in guten Zeiten gelernt und wohl gern geglaubt haben: Daß zuletzt doch Gott der Herr über alles ist, über das Leben genauso wie über den Tod. Wie wünsche ich diesen Menschen Trost in dem Gedanken, der jetzt gewiß noch unendlich schwer fällt: Daß es ein Leben gibt nach diesem Leben! Daß wir Christen für eine neue gute Welt bestimmt sind und daß wir dort einmal alle die wiedersehen werden, die uns - wie sanft oder wie gewaltsam ihr Tod auch aussah - dorthin vorausgegangen sind. Der Herr ist König! Er ist es über diese und über die ewige Welt! Aber auch wir, die wir mehr Zuschauer der Ereignisse bleiben konnten, sind ja erschüttert, betroffen in unserem Glauben, angefochten in unserem Gottvertrauen, angeschlagen in unserer Hoffnung. War nicht das erste, was wir gedacht oder ausgerufen haben: "Um Gottes Willen!" Fragen wir denn nicht seitdem: "Wie konnte Gott das zulassen?" Und drehen sich alle unsere Gespräche in der Gemeinde nicht seitdem auch darum: "Ob diese Welt denn noch zu retten ist oder ob sich jetzt nicht alles auf- löst und ins Chaos treibt?" Der Herr ist König! Diese Welt ist gerettet! Das hat Jesus Christus am Kreuz getan! Er hat auch über das Chaos und über den Tod gesiegt! Diesen Sieg können keine Ter- roristen mehr gefährden! Das Leben, das den Tod überdauert, kann uns kein Fanatiker und keine verbrecherische Gewalt mehr entreißen! Auch über den eingestürzten Türmen, den rauchenden Trümmern des Welthandelszentrums in New York steht das Kreuz als Siegeszeichen! Der Herr ist unser König! Und schließlich fügt der Prophet noch das allertröstlichste Wort an: Der Herr ist unser König, der hilft uns! Gott wird denen helfen, die durch den Tod ihrer liebsten Menschen in tiefstes Leid ge- stürzt wurden. Er wird sie durch die Trauer hindurchführen und ihre Hand nicht loslassen. Er wird ihnen Gedanken schenken, die ihnen den Mut zum eigenen Leben zurückgeben; sie werden mit- menschliche Solidarität erfahren, die sie durch die dunkelsten Tage trägt. Gott wird den Verantwortlichen in den Regierungen helfen, die nun besonnen nach politischen Ant- worten suchen, nach Wegen zum Frieden, die aus dem ehrlichen Willen zum Frieden kommen. Er wird ihnen beistehen, wenn sie jetzt nicht nur zu Gedenken und Anteilnahme die Hände falten, son- dern sich auch um Gottes Rat und Weisung in wirklich schwierigster Zeit ins Gebet flüchten. Gott wird auch uns helfen, daß wir die Hoffnung festhalten, daß in einer Welt, in der Gott König und Herr ist, jetzt noch lange nicht der Friede und das Verständnis zwischen Völkern und Religionen verloren ist. Gott wird unseren Glauben stärken, daß wir jetzt gerade und um so mehr, allen dunklen Mächten und Machenschaften, aller Müdigkeit und Resignation entschieden entgegentreten. Wir wollen jetzt nicht alle Zuversicht fahren lassen, sondern um so tapferer und entschlossener Christen sein und so leben, wie es erlösten Menschen ansteht. So werden wir über diese dunklen Tage mit ih- ren entsetzlichen Erfahrungen hinauskommen. Der Herr ist unser Richter, der Herr ist unser Meister, der Herr ist unser König; der hilft uns!