Ansprache zur Beerdigung - Tod durch Suicid Joh. 14,6a Liebe Angehörige, liebe Trauergemeinde! Wir wissen alle, was geschehen ist. - Und wir wissen doch nichts. Wer ermißt, was in einem Menschen vorgeht, der jahrelang im Bann einer seelischen Verwirrung gefangen ist, der krank ist an seinem Gemüt, der, was uns schön ist und erfreulich, als düster und bedrohlich erlebt? Wer kann sich vorstellen, was es heißt, jeden Tag neu den beängstigenden, schmerzlichen Gedanken anheim gegeben zu sein, die Men- schen und die Dinge nicht mehr so sehen zu können, wie sie sind, sich fürchten, sich schreckliche Sorgen machen vor der Zukunft und leiden - und es scheint doch dazu für uns andere gar kein Anlaß zu sein? Wer kann schließlich ermessen, wie groß die Not einer Seele sein muß, die einen solchen Entschluß faßt oder doch zumindest die Kraft aufbringt, den Weg zu gehen, den J. F. gegangen ist? Nein, wir wissen nichts. Wir können vielleicht - bei einiger Mühe und dem echten Willen dazu - ahnen wie groß das Elend ihrer letzten Lebensjahre gewesen sein muß, seit sie sich in dieser Welt nicht mehr zuhause fühlen konnte. Sie hatte keinen Halt mehr, keine Freude, keine Mitte, um die sich ihre Tage, ihre Arbeit und ihre Sorge hätte drehen können. Wir wissen: Viele Menschen in diesem Dorf - nicht nur die Angehörigen - haben versucht, ihr Beistand und Hilfe, Heimat, ein bißchen Wärme und täglich menschliche Ansprache zu ge- ben. Es hat nicht gereicht. Wir mußten erfahren, daß alles, was Menschen geben können, an seine Gren- zen kommt. Wir müssen es jetzt lernen, daß es das gibt: All unsere guten Worte vermögen einem Men- schen keinen Mut mehr zu geben. Trost, den wir sagen können, geht nicht bis ins Herz. All unsere Liebe, unser Bemühen findet kein Echo mehr. Das gibt es. - Vielleicht können wir daran auch sehen, wie sehr wir Menschen auf Gottes Trost und seine Liebe angewiesen sind und unser ganzes Leben lang angewiesen bleiben!? Wenn uns Gottes Hilfe nicht mehr erreicht, dann kann uns nichts vor der Verzweiflung retten. Wenn wir in seinem Wort keinen Halt mehr haben, dann ist kein Halten mehr. Schenke uns Gott, daß uns solche Erfahrungen erspart bleiben. In den Tagen, seit es geschehen ist, bin ich von vielen Menschen angesprochen worden. Es waren immer wieder zwei Fragen, die da geäußert wurden. Die erste war diese: "Was soll man dazu sagen?" Und manche haben sicher dabei gemeint: "Was werden sie, Herr Pfarrer, bei dieser Beerdigung sagen?" Ich habe das als tröstlich für mich empfunden, denn es ist nicht einfach, heute die richtigen Worte zu fin- den. Allzu leicht sagt man zu viel, leicht aber auch zu wenig. Ich möchte mich der Antwort, was man dazu sagen soll, was ich sagen will und sagen muß, von der anderen Seite her nähern: Ich weiß, was ich nicht sagen werde, was wir nicht sagen sollten, nicht sagen dürfen! Kein Wort des Urteilens nämlich - denn wir wissen zu wenig von diesem Menschen. Kein Wort darüber, wie das zu vermeiden gewesen wäre - denn wir haben ja kaum eine Ahnung von der schweren Bürde aus Leid und Verwirrung, die dieser Mensch hat tragen müssen. Und schon gar kein Wort des Richtens - denn wir alle sind nicht frei von Schuld und vor ihr nicht frei von Versagen, wie alle, die in diesem Dorf doch in einer Gemeinschaft woh- nen und zusammengehören und füreinander da sein sollen. Wir hätten gewiß alle mehr für sie tun müssen und wohl auch können. Aber es war uns vielleicht schwer, zu schwer mit ihr umzugehen, und die Art, wie sie zuletzt war, diese innere Haltung, die nichts mehr schön und beglückend finden konnte und alles von seiner dunklen Seite her gesehen hat, ist uns schwierig zu ertragen gewesen. So haben wir nicht standge- halten und die Liebe und die Fürsorge nicht gegeben, die wir hätten geben sollen und geben können. Die zweite Frage, die ich in den letzten Tagen ein paar Mal gehört und mir doch auch selbst gestellt habe, war diese: Warum? Warum tut ein Mensch das? Dabei habe ich mir diese Frage auch sehr persönlich so gestellt: Kann ich das von mir selbst mit felsenfester Gewißheit sagen, daß ich nie in eine Lebenslage kommen könnte, in der ich mit dem Gedanken spiele, die Welt und das Leben hinter mir zu lassen? Und ich denke, diese Frage haben sich gewiß auch andere von uns in den letzten Tagen vorgelegt. Warum? Wie kann man so weit kommen, zu tun, was wir doch nicht tun dürfen? Noch einmal: Wir wissen wenig, zu wenig von unserer Verstorbenen und was sich in ihrem Herzen in der letzten Zeit eingenistet hat. Davon können und wollen wir jetzt auch nicht reden oder gar darüber speku- lieren. Was wir aber als Christen wissen und heute oft beklagen, ist dies: Viele Menschen unserer Tage, die doch körperlich und geistig ganz gesund sind, denen kein Wahn die Seele verdunkelt und keine Krankheit das Gemüt belastet, leben heute auch ohne Mitte, ohne Halt, ohne Ziel und Richtung. Und - das sage ich als Seelsorger - sie sind deswegen auch gefährdet, daß für sie einmal die Stunde kommt, in der sie erkennen müssen, daß sie nichts mehr haben, was sie trägt, nichts mehr wissen, für das ihr Leben lohnt und wertvoll erscheint. Das geht oft sehr schnell! Ein Ereignis kann es bewirken. Vielleicht stirbt uns ein Mensch, für den wir immer gelebt haben. Vielleicht verlieren wir unsere Arbeit und wissen nicht mehr, was wir mit so einem langen Tag anfangen sollen. Vielleicht auch überfallen uns ganz unvermittelt die Gedanken nach dem Woher und Wohin unseres Lebens - und wir wissen keine Antwort zu sagen. Vielleicht sollten wir heute diesen traurigen Abschied nutzen, um uns wieder einmal vor unsere Ohren und unsere Herzen zu stellen, was allein unserem Leben Halt, Mitte und Richtung geben kann? Jesus Christus, auf den wir uns beziehen und nach dem wir Christen heißen, sagt von sich selbst: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Viele Menschen unserer Tage aber suchen sich ihren Weg fern der Gemeinde Jesu und fern von seiner Gemeinschaft und fern von der Ansprache seines Wortes. Es mag ja sein, daß sich auf diesem Weg jahre- und jahrzehntelang angenehm laufen läßt. Dieser Weg hat - wie der anderer Menschen auch - Höhen und Tiefen, steile und ebene Strecken, Zeiten der Krankheit und des Dunkels, Tage des Glücks und der Freude. Eines allerdings hat dieser Weg fern von Jesus nicht: Eine klare Orientierung! Es fehlt sozusagen der Kompaß, es fehlt die klare Richtung, es fehlt das sichere Wis- sen: Dorthin muß ich gelangen... Es fehlt eben das Ziel. Bei vielen Menschen unserer Tage ist die einzige Wegzehrung Geld und Güter, die Sachen, die materielle Sicherheit. Wenn nur das Auskommen gewähr- leistet, die Zukunft versichert ist, und es materiell an nichts mangelt, dann werden wir den Weg schon machen - meinen wir. Wenn der Halt an den Dingen dann zerbricht, ist nichts mehr da, was trägt. Und diese Stunde kommt. Sie kommt so sicher, wie das Amen am Ende dieses Trauergottesdienstes. Dem stellt unser Herr Jesus Christus gegenüber: Ich bin der Weg. Mit ihm als Begleiter wissen wir, wo es im Leben wirklich lang geht. Er weiß die Richtung, wenn sich die Wege verzweigen. Er kennt das Ziel, ja, er ist selbst das Ziel. Die Güter, mit denen wir unser Reisegepäck ansonsten so belasten, sind bei ihm Ne- bensache. Wenn er bei uns ist, dann gibt's die notwendigen Dinge des Lebens wie eine Zutat. Und wich- tig, so wichtig wie vorher, sind sie allemal auch nicht mehr. Wir haben ja mit ihm die wirkliche Mitte un- serer Tage, den festen Halt, die ganze Zukunft gewonnen. Wie kommen wir mit ihm in Verbindung? Im Gebet! - da ist er uns immer erreichbar - noch heute, an die- sem Tag und wenn es das erste Mal wäre, daß wir zu ihm rufen. Er ist nur so weit entfernt wie ein Händefalten. Für viele Menschen unserer Zeit aber ist nur wahr, was sie sehen und greifen können. Ihr Haus ist wahr, ihr Einkommen, Geld und Gut, das sie besitzen. Wahr ist dann wohl auch, was ihnen selbst nützt, was ihren Wohlstand oder ihr Vergnügen fördert. Wahr ist - mit einem Wort - der materielle Grund des Lebens, was man anfassen, kaufen und verkaufen kann. Der Glaube an Gott, das feste Vertrauen auf seine Macht, die über allen Gütern der Welt ist und die auch dann noch fest bleibt, wenn dieses Leben gefährdet ist und verlöscht, der Glaube an diese Macht Gottes hat in einem solchen Leben keinen Platz. Dabei wird doch in jedem Leben wieder und wieder eingeladen zum Glauben! Die religiöse Erziehung, das Gebet der Mutter in der Kindheit an unserem Bett ist die erste Einladung. Es folgen weitere: Die Schule mit ihrem Religionsunterricht, die Konfirmandenzeit mit ihrer klaren Unterweisung, die kirchliche Begleitung unserer Lebensstationen: Trauung, Taufe und schließlich der Gottesdienst jedes Sonntags... Nein, es fehlt nicht an Einladungen! Es fehlt aber an Bereitschaft, sie anzunehmen, zu hören, nachzudenken, sich neu zu orientieren. "Glaube an Gott", so heißt es dann vielleicht, "ist ohne rechte Grundlage. Ich glaube nur, was ich auch sehe!" Dabei geht ganz verloren, daß es noch andere wichtige Erfahrungen in unserem Leben gibt, die mit dem Glauben teilen, daß man seinen Grund nicht sieht: Die Liebe ist so etwas. Können wir Liebe anfassen, greifen oder auch nur be-greifen? Wissen wir warum wir lieben oder geliebt werden? Hat sie eine sichtbare Grundlage, die Liebe? Und doch ist sie wahr! Und doch gibt es sie! Und manche von uns würden wohl nicht mehr leben wollen, gäbe es sie nicht! Genau so ist es mit dem Glauben. Nicht sichtbar und doch wahr, ja, wahrer als alles, worauf wir uns doch so leicht verlas- sen. Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, sagt Jesus. Ich weiß und viele von uns wissen es, und ich will es heute einmal noch lauter und deutlicher sagen als sonst, ohne ihn ist kein Leben zu finden, keins jedenfalls, was diesen Namen verdient. Er allein ist die Fülle. Er macht, daß ein Leben rund wird und sich lohnt. "Lohnt" allerdings in einem anderen Sinn, als viele Menschen unserer Tage das verstehen. Vielleicht kann man es so ausdrücken: Bei ihm ist die Gebor- genheit auf dem Weg. Bei ihm ist das feste Wissen, es kann mir nichts geschehen, was mich von ihm und dem Ziel des Lebens trennt. Ich bin versorgt unterwegs, bewahrt, behütet, geliebt. Bei ihm ist auch Glaube: Gott hat etwas vor mit mir. Er führt mich den Weg meiner Jahre. Das ist kein Herumirren, keine erfolglose Suche nach immer mehr und mehr Kurzweil oder Eigentum. Es ist ein Weg mit Sinn und mit Aufgaben. Ein Weg, auf dem auch die Mitmenschen wichtig sind, weil mein Gott sie genau so liebt wie mich. Und es ist schließlich ein Weg, an dem ich am Ende gern Werk und Mühe meiner Tage aus der Hand lege: Dann kommt ja etwas, auf das ich mich schon so lange gefreut habe. Liebe Trauergemeinde, Jesus Christus spricht: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Noch einmal: Ich glaube, keiner von uns kann sagen, daß ihm die Welt und das Leben noch nie zur Last geworden ist. Keiner ist darum gefeit dagegen, daß er auch einmal dieser Welt überdrüßig wird und ihm das Dunkel und all die Fragen und Rätsel des Lebens hart aufs Gemüt schlagen. Wichtig ist uns, daß wir Halt und Orientierung finden. Jesus Christus allein bietet uns beides an. Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Lassen wir uns dieses Wort heute sagen. Öffnen wir ihm unser Ohr und unser Herz. Es ist vielleicht zuletzt ein Wort, das uns retten kann. Es gibt keinen an- deren Weg, der an ein Ziel führt. Es gibt keine andere Wahrheit, die uns wirklichen Sinn und innere Ruhe schenken kann. Es gibt kein Leben - fern von dem, der selbst das Leben war und ist und bleibt: Jesus Christus. Wir befehlen J. F. seiner Barmherzigkeit.