Ansprache zur Beerdigung - Längeres Leiden einer 78jährigen Ps. 37,5 Liebe Angehörige, liebe Trauergemeinde! Je länger ich Pfarrer sein darf, um so deutlicher wird mir das: Jeder Tod ist eine sehr persönliche Sa- che! Jedes Sterben hat seinen ganz eigenen Charakter. Nicht nur, weil es uns von Menschen trennt, die ihr besonderes Wesen und ihre unverwechselbare Persönlichkeit hatten; auch jeder Abschied selbst ist besonders und einzigartig. Die eine muß lange leiden und kann sich vielleicht viele Jahre nicht mehr allein helfen. Die andere ist kerngesund bis ins Alter und darf dann plötzlich mitten bei ih- rem Tagwerk gehen. Ein dritter stirbt viel zu früh, noch bevor er 60 ist. Ein vierter ist im Alter so einsam, daß er sich den Tod herbeiwünscht und kann doch nicht sterben. Immer ist es anders, einzig und unvergleichbar. Und immer stellt uns der Tod Fragen, denen wir nicht ausweichen können: "Warum mußte sie so lange leiden? Warum mußte er so früh gehen? Weshalb auf diese Weise?" So ist es auch angesichts des Sterbens von M. E.; auch da vernehmen wir jetzt in unserem Inneren Fragen, auch dieser Abschied war besonders wie kein Abschied sonst, auch hier sind es ganz eigene Gedanken, die uns durch den Kopf gehen. M. E. hat ein letztes leidvolles Jahr gehabt. Sie konnte sich nicht mehr ausdrücken, nicht mehr spre- chen, nicht einmal mehr in Beziehung zu ihren liebsten Menschen treten. Da kommen schon Gedan- ken und Fragen! Ich denke, nicht nur den Angehörigen geht das so. Wir alle sind betroffen, und wir spüren das jetzt auch. Gewiß, wir können versuchen, diesen Fragen auszuweichen. Einige von uns tun das jetzt sicher auch. Wir möchten verdrängen. Vielleicht sprechen wir zu uns selbst: Ich bin ja erst 50, 60 oder 70. Für mich ist der Abschied, wie immer der dann aussehen wird, ja noch weit. - Gewiß, die Verstorbene war 78. Aber was heißt das? Andere möchten es einfach nicht wahrnehmen, daß es hier um gemachte Erfahrungen geht. - So et- was gibt es! Da muß ein Mensch so lange Zeit des Leidens ertragen, und da müssen Angehörige eine so lange, aufreibende Zeit der Pflege bestehen! Das gibt es wirklich. Wieder andere möchten nur das sehen: Es ist ja jetzt vorbei. Sie ist ja nun erlöst, Gott sei Dank! - Das stimmt, aber es mußte dennoch erst bewältigt werden! Und es ist auch jetzt beileibe nicht vor- bei, nicht für alle, die M. E. in ihrer Leidenszeit nahe waren: Das will verarbeitet sein! Über solchen Erfahrungen muß man erst wieder einmal Gott, das Vertrauen in seine Liebe und den Glauben an seine Güte buchstabieren lernen! Doch, es ist schon so: Jedes Sterben stellt seine Fragen. Und der Abschied, den wir heute betrauern, vielleicht ganz besonders intensiv. Ich höre diese Fragen heute so: Wie sehen wir unseren Gott? Hat in unserem Glauben auch das schwere Geschick seinen Raum? Können wir auch ertragen, daß Gottes Wille uns sehr Schweres auferlegt? Vielleicht für uns selbst, vielleicht in der Pflege für andere, daß wir am Leid mitragen müssen, ohne Gott zu verlieren? Wie lange wird unser Vertrauen halten: ein paar Wochen, einige Monate, ein Jahr... Auch wenn uns das jetzt unangenehm wird. Aber ist es nicht besser, diese Fragen zu stellen, als sie von vornherein zu unterdrücken. Ängstliches Verdrängen hilft ja nicht wirklich. Sich blind und taub geben, schafft ja die Angst nicht aus unserem Herzen. Diese Fragen bleiben, ob wir sie hören wollen oder nicht. Lassen wir uns in diese Fragen hinein das Wort aus Psalm 37 sagen, das wir unserer Verstorbenen heute widmen wollen und uns allen auch: Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird's wohl machen! Und ich will diesen Vers noch einmal sagen: --- Spüren sie das nicht auch? Wie doch schon das Hö- ren, der Klang dieser Worte ruhiger macht! Wie diese Worte doch wie Balsam sind für unsere er- schreckten, aufgescheuchten Seelen. Diese Psalmverse haben etwas Wunderbares: Noch bevor wir ihren Inhalt mit unserem Verstand erfassen, können sie schon trösten, ermutigen, stärken, helfen. Menschen in großer Not, auf dem Krankenlager oder am Ende, mit dem Schwersten vor Augen..., solche Worte dann gesprochen oder vorgebetet...da ist eine Kraft im Raum, ein Zuspruch, eine Macht, die wir kaum erklären können, die aber doch da ist: Befiehl dem Herrn deine Wege... Und wieviel liegt erst im Sinn dieses Wortes!: Wir wissen ja alle, wer dieser "Herr" ist, der Gott des Himmels und der Erde, der Vater aller Menschen, der auch mich geschaffen hat, gewollt hat, mit al- lem, was mich ausmacht. Im Mutterleib hat er mich gebildet. In der Taufe hat er mir seinen Segen versprochen. Und er hat sein Versprechen gehalten, selbst in den ganz dunklen Zeiten meines Le- bens. Er hat mir Schweres nicht erspart, aber er hat mich hindurchgeführt. Er hat mich vielleicht so- gar einmal fallengelassen, aber er half mir wieder auf! So mußten mir immer wieder selbst die Not und das Leid zum Besten dienen. Befiehl dem Herrn deine Wege... Wir haben allen Grund, ihm zu vertrauen. Er hält uns in seiner Hand, auch wenn das manche von uns heute nur schwer glauben können. Er wird uns durch die Zeit der Trauer bringen, ohne daß wir im Leid verzweifeln und ver- gehen. Befiehl dem Herrn deine Wege...und hoffe auf ihn! Das ist das zweite: Er ist ja gar nicht bloß der Herr dieser Welt und dieses Lebens! Seit Jesus gestorben und auferstanden ist, wissen wir von einem anderen Leben und einer neuen Welt. Dieser Jesus hat sie uns verdient, erworben mit sei- nem Blut, bezahlt mit seinem Leid. Uns erwartet dieses Leben, wenn wir ihm vertrauen und uns von seiner Art zu leben und zu lieben anstecken lassen...und hoffe auf ihn... Für manche ist das gar nicht so leicht, ich weiß. Sie haben es versucht, wieder und wieder: "Ich will ja glauben, ich will ja hoffen!" Aber vor schlimmen Lebenserfahrungen brach der Glaube wieder zusammen. Der Atem un- serer Hoffnung erwies sich als zu kurz: Die Angst vor dem Verhängnis des Todes hat sie besiegt. Und dennoch wird uns das heute, an diesem Tag, in dieser Stunde wieder einmal zugemutet und zu- getraut: Hoffe auf ihn! Nimm doch wieder einmal wahr, was deine Erfahrungen sagen wollen: Du wurdest zwar in Kummer und Schmerz geführt, aber du gingst darin nicht unter! Die Erlebnisse, die du hattest, die schlimmen Bilder deiner Erinnerung, es waren vielleicht Stunden dabei, in denen du keinen Gott mehr erkennen konntest, und doch hat er dich nicht losgelassen. Er hat dir auch wieder andere Zeiten, glücklichere Stunden geschenkt. Sieh doch auch das! Und lerne daraus: Wie schon so oft in deinem Leben aus Dunkel wieder Licht wurde, so wird einmal aus der Nacht des Todes ewiger Tag werden. Hoffe auf ihn! Vertraue dich Gott an, auch wenn du ihn nicht ganz verstehst. Wer wollte Gott ganz begreifen können? Und schließlich heißt es: Er wird es wohl machen! Eine Verheißung für jeden von uns und ganz besonders für die Angehörigen von M. E.: Auch wenn Ihr es heute nicht für möglich haltet, es wer- den auch wieder andere Tage für Euch kommen. Aus Tränen der Trauer werden Tränen der Freude werden. Ja, es mag vielleicht noch zu früh sein für solche Gedanken, aber die schlimmen Erfahrun- gen, die wir haben machen müssen, werden wir nicht nur verkraften, nicht nur schweren Herzens bewältigen... Unserem Gott wird sogar das, was wir im vergangenen Jahr mitgetragen, gelitten und geleistet haben, zum Segen für uns dienen! Wenn wir vor diesem Sterben vielleicht unseren persönli- chen Glauben neu buchstabieren. Wenn unsere Beziehung zu Gott auch Raum für ein hartes Ge- schick bekommt. Wenn wir auch in schweren Stunden das Vertrauen festhalten lernen. Wenn über unserer gegenwärtigen Erfahrung, daß Sterben auch Erlösung, auch ein Freund sein kann, der Tod ein wenig von seinem Schrecken verliert. Gott wird es wohl machen! Das ist jetzt für Sie, liebe Angehörige, eine ungeheure Zumutung. Es heißt ja, daß auch aus Ihren so schweren Erfahrungen etwas Gutes, etwas Wertvolles für Sie werden soll. Gott wird's wohl machen, nicht nur erträglich, jetzt wo es endlich vorbei ist, sondern gut für Sie, hilfreich, voll Segen... Wie gesagt: Eine Zumu- tung. Aber ich bin ganz gewiß, daß es wahr ist. Es muß unserem Gott alles dienen, alles, noch das schwerste Schicksal, noch die dunkelste Erfahrung. Es möchte uns alles näher an das Ziel bringen, das er mit uns hat. Liebe Angehörige, liebe Trauergemeinde, jeder Tod stellt seine eigenen Fragen. Der Tod, den wir heute beklagen, fragt uns das: Welchen Raum gibst du dem Gedanken an ihn. Wieviel Platz ist in deinem Vertrauen - auch für ein schweres Geschick? Wie fest ist dein Glaube, daß er auch über schlimmen Erfahrungen den gütigen Gott nicht verliert? - Wie wir antworten werden, antworten können, wenn für uns das Leid, die schwere Zeit da ist, wissen wir nicht. Vorher kann das keiner sa- gen. Aber üben wir uns mit solchen Gedanken, solchen Worten, solcher Verheißung: Auch aus schweren Erfahrungen soll etwas Gutes, etwas Wertvolles für uns werden. Gott wird's wohl ma- chen. Es muß unserem Gott alles dienen, alles, noch das schwerste Schicksal, noch die dunkelste Erfahrung. Es möchte uns alles näher an das Ziel bringen, das er mit uns hat. Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird's wohl machen! Amen.