Ansprache zur Beerdigung - Langes Leiden eines 76jährigen Gal. 6,2 Liebe Angehörige, liebe Trauergemeinde! Manchmal ist das ganz deutlich: Ein Wort aus der Heiligen Schrift ist oder wird mehr als ein Wort für einen bestimmten Anlaß. Eine Widmung für die Taufe, die Konfirmation, die Trauung weist auf einmal weit über sich hinaus und wird zum Sinnspruch für ein ganzes langes Leben. Ein Vers, den wir vielleicht einmal in schwerer Zeit gelesen haben, entfaltet seine Kraft und geht viele Jahre mit uns und kann uns immer wieder mahnen, anspornen oder trösten. Oft schon habe ich das erlebt oder davon gehört - mancher von uns hat das gewiß auch schon für sich selbst erfahren. Bei unserem Verstorbenen und seiner Frau ist der Trauspruch solch ein kräftiges Wort gewesen. Vor über 50 Jahren für die Hochzeit ausgesucht, hat er sich bald 50 Jahre später als besonders wahr und überaus treffend erwiesen. Dies ist der Vers, den die Schomberts vor langer Zeit vor diesem Altar mit auf den ihren gemeinsamen Weg bekamen: "Einer trage des anderen Last so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen." Wer weiß, was A. S. in den vergangenen Jahren auferlegt war, der versteht, warum dieser Vers für diese Stunde paßt: Da hat wirklich ein Mensch ungewöhnlich schwer tragen müssen...war beeinträchtigt in der Bewegung, konnte kaum noch laufen, sich nicht selbst helfen, war pflegebedürftig und hatte das Augenlicht fast verloren... Einer trage des anderen Last... A. S. hätte in dieser schweren Zeit nicht leben können, ohne seine Frau und seine Lieben. Sie haben einen großen Teil der Bürde, die ihm auferlegt war, mit ihm getragen. Er allein wäre längst darunter zusammengebrochen. Ja, ohne Hilfe hätte er die Last gewiß kaum eine Strecke weit schleppen kön- nen. So aber durfte er noch einige Jahre bei seinen Angehörigen bleiben. Und er hat in dieser Zeit - trotz aller Behinderungen und Beschwerden - auch gute Tage gehabt, wertvolle Stunden und sogar manchesmal Glück und Freude im Kreise seiner Familie und seiner Freunde erfahren. Das allein ist ja schon erstaunlich und wunderbar, daß ein Mensch, der so mit Leiden geschlagen ist, wie er es war, doch auch noch Freude empfinden kann und wohl auch noch gerne lebt. Das muß an der Liebe lie- gen, die wir diesen Menschen schenken. Und ich glaube fest, nur die Liebe hält solche Menschen überhaupt am Leben. Daß A. S. trotz aller Beschwer, die ihm auferlegt war, fast 77 Jahre alt gewor- den ist, kam von Ihrer Liebe zu ihm, liebe Angehörige. Einer trage des anderen Last... Sie mußten das tun und sie haben es getan. Daß sie es aber konnten, liegt nicht allein an Ihnen, das weist uns über uns und unsere Kraft hinaus - auf einen anderen: Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Ja, es ist ein Gesetz! Und es soll für die Leute Christi gelten. Wäre das nur empfohlen, wer würde es sich auferlegen, die Lasten seiner Mitmenschen mitzutragen? Würden wir nicht lieber fliehen, wenn das Leid unserer Nächsten uns zu nahe kommt? Wer würde dann aushalten und bei ihnen bleiben - freiwillig? Aber es ist Gesetz: Trage mit deinem Mitmenschen, was ich ihm an Lasten zumesse! Lege einen Teil auf die eigene Schulter! Hilf ihm seine Bürde schleppen! Christus selbst gebietet uns das! Was erleben wir, wenn wir das Gesetz Christi erfüllen? Wie geht es uns anderen, wenn wir uns mit auflegen, was Gott unseren Mitmenschen zu tragen gibt? Gewiß erwarten uns oft schwere Stunden, die uns an die Grenzen unserer Belastbarkeit führen. Wir werden oft stöhnen und weinen und der Atem geht uns aus. Vielleicht werden wir manchmal sagen - und das muß man verstehen: Hätte ich doch nie damit angefangen, meinem Nächsten die Bürde mit- zutragen! Auch die Zweifel werden uns heimsuchen: Ob das ganze Schaffen und Schuften für die Mitmenschen denn überhaupt einen Sinn hat! Ja, ob sich das alles denn lohnt? Auch zu Gott werden wir schreien: Ich kann nicht mehr! Hilf mir, sonst breche ich unter dieser Last zusammen. Alles das wartet auf uns, wenn wir Christi Gesetz zu unserem Maßstab machen. Aber noch etwas anderes...und das erfahren nur die, die damit anfangen, mit anderen zu tragen, an- derer Menschen Last zu ihrer eigenen zu machen: Es gibt dann nämlich auch Zeiten, in denen wir spüren, da trägt ja noch einer mit an diesem Leid! Ja, es ist weite Strecken des Wegs dann nicht einmal die halbe Last, die wir empfinden. Als wären wir nicht mehr nur zu zweit, sondern zu dritt... In solchen Zeiten erfahren wir das Geheimnis dieses Wortes: Einer trage des anderen Last... Wenn wir es wirklich tun, sind wir zu dritt unter den Bürden, die wir einander tragen. Christus selbst ist der dritte! Er, der ja mit allem Leid der Menschen vertraut ist, kommt uns zu Hilfe. Er lädt sich auf die Schulter, was für zweie zu schwer ist. Er gibt die Kraft, die uns durchhalten und nicht verzagen läßt. So hat das Gesetz Christi auch seinen guten Lohn: Wenn wir es erfüllen, wird es uns und einem anderen leichter. Statt zweie tragen dann drei! Liebe Frau Schombert, liebe Angehörige, ich weiß, daß sie das erlebt haben. Ich weiß, daß ihre Kraft von Jesus Christus herkam. Ich weiß, daß er Ihnen das Lächeln geschenkt hat und die guten Worte - auch wenn sie in den letzten Jahren oft sehr viel Liebe aufbringen und Pflege leisten mußten, die manchmal an die Grenzen ging. Sie haben ein Stück des Geheimnis' dieses Wortes begreifen dürfen: Einer trage des anderen Last... Liebe Gemeinde, das ist ja nun nicht nur der Trauvers der Schomberts gewesen, das meint ja auch nicht nur die Familie, die dieses Wort in den letzten Jahren an unserem Verstorbenen so gut und so bereitwillig erfüllt hat. Ich würde so gern uns allen von heute mitgeben, daß dieses Wort auch für uns alle gilt, wahr ist und beherzigenswert! Wir wissen es doch: Jedes Häuschen hat sein Kreuzchen, jedes Dach sein Ach! So sagen wir doch hier im Dorf. Und das stimmt. An vielen Stellen, vielleicht ganz nah, nur schräg über die Straße oder nebenan im Nachbarhaus haben Menschen auch bei uns viel zu tragen. Vielleicht scheuen wir ja noch die Folgen, die es bedeutet, uns selbst da anzubieten, einzubringen, zu helfen... Werde ich das ertragen, durchhalten können, wenn ein Mitmensch meinen Beistand braucht und das vielleicht jahrelang? Ja, soll ich etwa noch danach suchen, wo mich ein Mensch in meiner Umgebung nötig hat? Wäre das nicht leichtfertig, ja, dumm? Zwei Gedanken gehen mir dabei durch den Kopf: Einmal der: Ob wir anders als in der Hilfe und dem Beistand für unsere Nächsten überhaupt noch menschlich bleiben können in dieser Welt, die doch nach und nach - und wir spüren es doch! - immer mehr das menschliche Gesicht verliert? Ja, ob hier nicht auch auf dem Spiel steht, daß es immer noch kälter und immer dunkler wird in diesen schon so kalten und dunklen Zeiten? Und dann - auch diesem Gedanken wollen wir uns heute stel- len: Wie rasch kann ich das doch selbst sein, der schwere Lasten aufgebürdet bekommt und Hilfe braucht! Wie schnell kann ich selbst des Beistands bedürftig werden und mein Leben hängt daran, daß einer meine Last mit mir trägt! Was ich mir dann wünsche, sollte auch ich selbst in guter Zeit für andere tun: Einer trage des anderen Last! Ich bin ganz sicher, daß wir bei diesem Tun nicht nur Schweres und Bedrückendes erleben! Es wird auch Stunden der Freude geben - einer Freude, wie sie nur ein Leben für andere schenken kann. Wir werden manchmal sicher meinen, es ginge nicht länger. Aber nach einer unruhigen, vielleicht gar durchweinten Nacht ist auf einmal wieder eine Kraft da, die uns stark macht. Wir wissen nicht woher sie kommt, wir ahnen es - aber sie ist da! Dann wird uns das Geheimnis offenbart, das nur der er- fährt, der das Gesetz Christi zu erfüllen versucht: Auf einmal sind wir nicht mehr nur zu zweit, denn wir tragen nicht so schwer, wie die Hälfte wiegt. Christus ist da, sein Beistand macht es uns leichter, wir haben Hilfe an ihm. Er ist der dritte beim Tragen! Liebe Trauergemeinde, heute möchte ich noch etwas ansprechen. Weil es unbedingt einmal gesagt werden muß. Und weil es heute bei diesem Abschied und bei diesem Grabvers so gut paßt. Immer wieder in den vergangenen 20 Jahren und besonders jetzt über Weihnachten und dem Jah- reswechsel, da wir ja schon viermal an Gräbern stehen mußten, habe ich es gehört: Wie schön, ja, wie wunderbar doch die Beerdigungen bei uns wären. Was zunächst etwas seltsam klingt, meint be- sonders dies: Wie groß, wie überaus stark doch die Beteiligung und die Anteilnahme an den Trau- erfeiern und Bestattungen bei uns ist. Da stirbt etwa eine Frau, die schon viele Jahre nicht mehr hier gewohnt hat, aber die Kirche ist voll, wenn wir ihrer gedenken und sie zu ihrer letzten Ruhe bringen. Da stirbt ein Mann, der erst seit vier Jahren bei uns gewohnt hat - über 200 Menschen, die meisten aus unserem Dorf, gehen mit ihm den letzten Weg in dieser Welt. Wer das für eigentlich selbstverständlich hält, mag sich einmal die Erfahrungen erzählen lassen, die einige von uns vor Wochen in Gießen bei der Beerdigung einer Frau gemacht haben, die einmal bei uns gewohnt hat. Mich hat dazu eine Äußerung sehr nachdenklich gemacht, die ich bei der letzten Bestattung gehört habe: "Hier geht ja wirklich noch aus jedem Haus einer oder eine mit. Das hilft den Angehörigen bestimmt sehr! Bei uns in einem Vorort der Großstadt fühlt man sich unendlich allein und verlassen, wenn man einen lieben Menschen verliert!" Vorgestern abend, also noch am selben Tag, da ich das hörte, haben wir A. S. in die Trauerhalle ge- bracht. Und es waren fast hundert Menschen, die mitgegangen sind. "Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen." Ja, ich glaube auch hier erfüllen die Menschen bei uns das Gesetz Christi. Und ich glaube, ja, ich weiß, diese Anteilnahme ist denen eine große Hilfe, die um ihre liebsten Menschen trauern. Und ich hoffe, ja, ich bin gewiß, daß diese Anteilnahme auch bei dieser Trauer jetzt nicht erkaltet, wenn wir den Sarg von A. S. in die Erde hinabgelassen haben. Denn noch lange Zeit werden die Angehörigen Trost brauchen, Hilfe, Mit-leid und Mit-tragen! Und da ist mir - und auch das will ich ruhig einmal sagen - da ist mir gerade in der H.-straße mit ihrer so guten Gemeinschaft und nachbarlichen Bezie- hung nicht bange um die Menschen, die A. S. angehörten. Laßt die Frau, laßt die Familie jetzt nicht allein! Liebe Trauergemeinde! Ich wünsche uns allen immer wieder Mut, dieses Wort zu erfüllen und gute Erfahrungen mit seiner Wahrheit. Wie es bei den Eheleuten und in der Familie S. auf dem letzten Stück des gemeinsamen Weges wahr geworden ist, so möge es auch bei uns und durch uns wahr werden, wenn für uns ein- mal dunkle Zeiten kommen: "Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen."