Eine Predigt - besonders klar nach den fünf Stufen des Lerntheoretischen Predigtmodells verfaßt von Manfred Günther (Die Predigt ist für den 1. Weihnachtstag geschrieben, aber auch mit leichten Veränderungen geeignet für die Christnacht und den 2. Weihnachtstag) Lesung vor der Predigt: Joh. 3, 31 - 36 (n. Jörg Zink) - zur 5. Perikopenreihe, Christfest 1 Wer von oben kommt, der ist über allem, wie Gott über der Welt ist. Wer irdischen Ursprungs ist, ist irdischen Wesens, und sein Wort hat nicht mehr Wahrheit, als seinem menschlichen Wissen entspricht. Wer aus Gottes Lichtwelt kommt, weiß allein Gottes Geheimnis. Was er gesehen und gehört hat, das zeigt er den Menschen, aber sein Wort ist fremd in der Welt, und niemand nimmt es auf. Wer aber sein Wort empfängt und bejaht, der bekräftigt damit, daß Gott in diesem Wort wirklich sich selbst zeigt. Denn der, den Gott sandte, redet Worte von Gott. Denn Gott gibt seinen göttlichen Geist nicht abgemessen und stückweise, sondern in ganzer Fülle. Der Vater liebt den Sohn, und alle seine Fülle gab er in seine Hand. Wer nun dem Sohn mit Glauben begegnet, hat jetzt schon ewiges Leben. Wer dem Sohn den Glauben versagt, wird das wirkliche Leben nicht sehen; die Verdammnis, die ihm schon bisher durch Gottes Urteil bestimmt war, bleibt ihm auch künftig bestimmt. 1.) In einer Gemeinde unserer Kirche wurde gestern nicht Heiligabend gefeiert, sondern Karfreitag. Der Pfarrer dort hat die Kerzen am Christbaum gelöscht und das Krippenspiel fiel aus. Dann wurde nicht "0 du fröhliche" gesungen, sondern das Lied: "Jesu, deine Passion will ich jetzt bedenken". Nach der ersten Strophe war die Kirche leer. Laut schimpfend haben die Leute die Christvesper verlassen. Man kann das verstehen. Nicht verstehen können Sie jetzt sicher, warum dieser Pfarrer so gehandelt hat, warum macht er den Menschen ihren Heiligabend kaputt? Kurz vor dem Gottesdienst hatte sich folgendes abgespielt: Ein junger Strafentlassener war zurückgekehrt. Da ihn die eigenen Eltern nicht aufnehmen wollten, war er zum Pfarrer gegangen. Der hatte ihm Obdach gewährt und ihn zur Christvesper eingeladen. Und da war er jetzt und drängte sich in eine schon vollbesetzte Bank. Der Pfarrer beobachtete es durch die angelehnte Sakristeitür. Und er freute sich, daß der junge Mensch gekommen war. In den nächsten Minuten geschah allerdings etwas ungeheuerliches: Einer nach dem anderen in der Bank des Strafentlassenen stand auf und suchte sich einen Platz in den anderen - auch schon gut besetzten - Bankreihen. Schließlich saß der junge Mann völlig allein in seiner Bank. Aber nicht lange: Er stand auf und ging hinaus. - In diesem Moment war der Pfarrer durch die Sakristeitür getreten, hatte die große Deckenbeleuchtung aufflammen lassen und die Christbaumkerzen ausgedreht. Mit Donnerstimme hatte er in die Kirche gebrüllt: Wir singen Lied 88, "Jesu, deine Passion...", denn heute ist Karfreitag, heute wurde unser Herr Jesus Christus ein weiteres Mal gekreuzigt! So war das gewesen, gestern abend. Darum hat es in dieser Gemeinde keinen Heiligabend gegeben. Einer der schimpfenden Christvesperbesucher hatte es ziemlich laut ausgesprochen: "Mit einem so heruntergekommenen Menschen setze ich mich nicht in die selbe Kirchenbank!" 2.) Wie hätten Sie reagiert, liebe Gemeinde, Sie, Sie und Sie? Was erwarten wir an Heiligabend oder heute am l. Weihnachtstag? Den Glanz der Kerzen! Die Gefühle der Kindheit! Diese Stimmung - mild und weich wie Watte. Wieviel Störung könnte unser Gefühl ertragen? Wer möchte sich schon von Lumpenpack die weihnachtliche Atmosphäre verderben lassen? Wer setzte sich neben einen so heruntergekommenen Menschen? 3.) Manche denken jetzt sicher: Aber es ist doch Weihnachten! Das macht doch gerade das Schöne an diesem Fest, daß der Lichterbaum strahlt, daß die Kinder ihr Krippenspiel aufführen, daß wir selbst auch einmal wieder Kind sein dürfen. Kann man uns das denn nicht gönnen, wo das Leben in dieser Zeit doch wirklich oft genug hart und freudlos ist! Und wo es doch auch immer wieder ein ganzes Jahr dauert, bis es wieder heißt: "Selige Weihnacht"! - Aber, sagen Sie einmal: Genügt uns das denn, dies bißchen Stimmung, diese gefühlige Stunde in der Kirche, das kleine Licht, das von diesem Gottesdienst ausgeht - schon morgen wird es sich aufgezehrt haben. Wollen wir nicht eigentlich viel mehr? Sind unsere Wünsche nicht unendlich viel tiefer? Sehnen wir uns nicht unsäglich nach...Freude, nach Sinn und erfülltem Leben? Was ist denn der kleine Schauer, den es uns bei "Stille Nacht" über den Rücken treibt? Was sind denn die Wehmut und unsere Tränen der Ergriffenheit beim Spiel der Kinder - gegen das, was wir eigentlich mit jeder Faser unseres Herzens ersehnen: das volle, wahre Leben, das uns froh und satt macht? Andere würden vielleicht darauf hinweisen, wie wenig das doch zusammenpaßt: Das schönste, höchste Fest der Christen, die herrlichen Lieder von der Geburt des Gottessohns, das Strahlen der Lichter, die gehobene Stimmung der Menschen zur Weihnacht - und dann ein Strafentlassener: einer von außerhalb der Gesellschaft, einer, der stört, der nicht hierher paßt, in schmuddeligen Kleidern wahrscheinlich... Haben wir eigentlich die Hirten bei der Krippe gesehen? Haben wir wahrgenommen, was das für Leute sind? Einer ging an Krücken! Einer hatte keinen Mantel! Ein dritter hat früher einmal die Kaufleute auf den Gebirgsstraßen überfallen. Einem vierten sieht man sein geistiges Gebrechen schon am Gesicht an. Haben wir sie nicht gesehen? Und das Kind? War das nicht ein Futtertrog, in dem es lag? Hatte nicht gerade noch der Esel daraus gefressen? Und liegt nicht über dem ganzen dieser strenge Stallgeruch? Ja, paßt denn das zu Weihnachten? Und dann sind sicher noch einige unter uns, die würden von sich sagen: Ich hätte mich zu diesem jungen Menschen in die Bank gesetzt! Gut, das wäre vielleicht ein bißchen unangenehm gewesen, wenn dann alle so nach einem gucken... Aber man kann doch nicht so sein, so kalt und abweisend - doch nicht an Heiligabend! - Kennen wir uns selbst gut genug? Einer nach dem anderen hat die Bankreihe verlassen. Einer nach dem anderen läßt den Strafentlassenen allein. Wir wären geblieben??? 4.) Wie hatte der Pfarrer in der Christvesper angesichts der kalten Herzen dieser Menschen gesagt?: "Heute wurde unser Herr Jesus Christus ein weiteres Mal gekreuzigt!" Ja, war denn Christus in diesem heruntergekommenen jungen Mann? Ja, war er nicht viel mehr bei und in den anderen rechtschaffenen Gottesdienstbesuchern? Hören und sehen wir noch einmal genau hin: Da ziehen zwei arme Leute über Land nach Bethlehem. Sie ist schwanger und doch hat keiner Herberge für sie. Alle weisen sie ab und kennen kein Erbarmen. Schließlich schickt sie einer in den Viehstall zu den Tieren. Kalt und zugig ist es da gewesen. Dort bekommt die Frau ihr Kind. In eine Futterkrippe muß sie es legen. Auf Stroh muß sie es betten, das sonst dem Vieh zum Lager dient. Das Lumpengesindel der Hirten ist zuerst zu Gast. Wie gesagt: Alles Außenseiter der damaligen Gesellschaft, Behinderte, Arme, unansehnliche Leute... Und das Kind, das da so elend anfängt? Ist später nicht alles so geblieben? Immer dieser Hang zu den Menschen am Rande, zu den Verachteten, den Zöllnern, den Sündern. Und er selbst? Blieb er nicht der Arme, der nicht hatte, wo er sein Haupt hinlegen konnte? Haben sie ihn selbst nicht auch hinausgedrängt aus ihrer Gemeinschaft? Haben sie ihn nicht auf die Leidensstraße geschickt, auf den Kreuzweg, in den Tod? Ja, stirbt er nicht, wie er gelebt hat: als der Ausgestoßene, der Verachtete, der Heruntergekommene? So sagt Johannes: "Wer aus Gottes Lichtwelt kommt, weiß allein Gottes Geheimnis ...aber sein Wort ist fremd in der Welt, und niemand nimmt es auf." Ob es. nicht "Gottes Geheimnis" ist, sich in der Gestalt solcher heruntergekommenen Leute zu verhüllen? Ja, ob nicht Christus, der im Viehstall begann und am Kreuz endet, das Gesicht Gottes trägt, der es mit den Randsiedlern und den Außenseitern hält? Wahrhaftig: "Sein Wort ist fremd in der Welt und niemand nimmt es auf!" Wer mag das hören: Ich bin nicht im Glanz eures Lichterbaums und nicht in der Süße eurer Lieder? Wer begreift das: Ich will nicht die weichen Gefühle eures Herzens und die wohligen Schauer beim Krippenspiel? Ich will mich als Bettelkind in einen Viehtrog legen! Ich will mich als der Strafentlassene in eure Bank setzen! Ich will in den Mühseligen und Beladenen, den Verachteten und Verfolgten, den Kranken und Ausgestoßenen, den Habenichtsen und Erfolglosen sein! Ich will so herunterkommen - aus meinem Himmel! Wer begreift das? "Wer aber sein Wort empfängt und bejaht, der bekräftigt damit, daß Gott in diesem Wort wirklich sich selbst zeigt. Denn der, den Gott sandte, redet Worte von Gott." So ist Gott: Hilfloses Krippenkind, ein Mensch ohne Herberge, einer, der den unteren Weg geht, der Verlierer am Kreuz, der vom Rand der Gesellschaft, der Kranke, der Behinderte, der Strafentlassene... In Christus zeigt sich Gott, in dem jungen Mann, den sie allein lassen, in jedem Menschen, der uns mühselig und beladen gegenübertritt. Und in uns selbst auch! Nehmen wir uns doch nur einmal ehrlich wahr: Wir sind ja gar nicht unser neuer Pelz! Wir sind ja gar nicht so froh und weihnachtsselig heute morgen! Wir haben uns bloß kostümiert und ein fröhliches Gesicht vorgehalten wie eine Maske! Wir sehnen uns danach, einmal echt sein zu dürfen. Wir wünschen uns nichts mehr, als volles, erfülltes Leben! Wir suchen hier nicht das bißchen Glanz und die paar Tränen der Rührung; wir suchen die Freude, die morgen noch bleibt und uns und alles neu macht! Und wir haben gefunden! Er ist da, der uns Gott als unseren Bruder und unsere Schwester zeigt! Der von oben kommt, wollte nicht oben bleiben. Er ist heruntergekommen - in Jesus, einer von uns geworden in ihm und allen, die klein und elend sind wie er. Und er ist uns ganz nah, wenn wir selbst zu unserer Mühsal stehen, zu unserer Sehnsucht, unserer Angst und Schwäche. Wir dürfen unsere Masken vor ihm fallenlassen. Er ist ja wie wir geworden. Wir dürfen ihn Bruder nennen und er wird uns Frieden schenken, Freude und wahres Leben. "Gott gibt seinen Geist nicht abgemessen..., sondern in ganzer Fülle!" Wir können - durch Gottes Geist - alles abtun, was uns noch hindert, sein "Wort zu empfangen und zu bejahen": Wir werden in Christus Gott erkennen, den ohnmächtigen, elenden, heruntergekommenen Gott..., der ist wie wir. Und wir haben damit "Gottes Geheimnis" erkannt: Das "Oben" zu verlassen und ins "Unten" hinabzusteigen, einer von uns zu werden und damit uns zu seinen Brüdern und Schwestern zu machen. Elender als dieser Gott in der Krippe ist keiner von uns! "Wer ihm mit Glauben begegnet, hat ...ewiges Leben! Wer ihm Glauben versagt, wird das...Leben nicht sehen." Er wird zufrieden sein müssen mit ein bißchen Glanz in den Augen, ein wenig Gefühl in einer Christvesper und der "ungestörten" seligen Weihnachtsatmosphäre. Den wahren, den heruntergekommenen Gott lernt er so nicht kennen. Das wahre, das volle Leben wird er so nicht finden. 5.) In einer Gemeinde unserer Kirche wurde gestern nicht Heiligabend gefeiert, sondern Karfreitag. Die Menschen dort haben nicht begriffen, daß Gott in der Gestalt eines Heruntergekommenen zu ihnen kam. Schenke Gott uns, daß wir sein Geheimnis begreifen, daß wir ihn empfangen und er uns in seiner Armut und Mühsal froh macht. Schenke uns Gott, daß wir in allen Brüdern und Schwestern die arm und elend sind, ihn erkennen und aufnehmen. Schenke uns Gott, daß wir auch uns selbst annehmen können, so schwach und mühselig wir auch immer sein mögen. Kleiner und elender als dieser Gott in der Krippe ist kein Mensch. Mit ihm als Bruder haben wir das Leben. So wird es Weihnachten für uns!