Plädoyer für die freie Rede in der Predigt Freie und schriftlich ausgearbeitete Predigt sind zwei mögliche und gleichwertige Formen evangelischer Kanzelrede. Selbstverständlich kann und wird der Heilige Geist durch beide wir- ken und Menschen ansprechen. Die Einseitigkeit der Schriftlich-Predigt in den evangelischen Kirchen reizt jedoch zu einem Plädoyer... Vor Jahren vereinbarte ich am 2. Weihnachtstag mit einem Kollegen Kanzeltausch. Selten hat meine damalige Gemeinde so begeistert von einem Gottesdienst erzählt. Was war geschehen? Der Kollege sah plötzlich während der Predigt einen Konfirmanden tief unter sich in der er- sten Reihe, der scheinbar ungläubig und mit offenem Mund zu ihm hochschaute - und der klappte sein Manuskript zu und sagte zu ihm: "Wenn ich Dich so anschaue, habe ich das Ge- fühl, dass Du kein Wort verstehst von dem, was ich sage. Ich versuche es jetzt noch einmal!" Und er predigte fortan frei - scheinbar nur für diesen Konfirmanden, aber die ganze Ge- meinde fühlte sich angesprochen und war gefesselt. Ob es an dieser Predigt lag, dass jener Konfirmand ein paar Jahre später in den Kirchenvorstand gewählt wurde, vermag ich nicht zu sagen... Sechs Thesen zum Thema: 1. Jede schriftlich ausgearbeitete Predigt ist in der Vergangenheit entstanden. Die Kunst, eine fertige Predigt so vorzutragen, dass sie in der Gegenwart direkt anspricht, stellt eine hohe Anforderung an Predigerinnen und Prediger. Sie müssen sich bereits bei der Predigt- vorbereitung in die gottesdienstliche Situation hineinversetzen - z. B. am Abend am Schreibtisch im Arbeitszimmer in den Morgen auf der Kanzel in der Kirche vor einer ver- muteten, aber noch nicht bekannten Gemeinde. 2. Gängige homiletische Konzepte beschreiben den Entstehungsprozess eines Predigt- Manuskripts und geben dann Anregungen für die intensive Aneignung (-Auswendig- lernen") und für den möglichst freien Vortrag dieses Manuskripts. Es ist jedoch zu fragen, inwieweit dabei ein Weg beschritten wird, auf dem das am Ende angestrebte Ziel (der freie Vortrag) nur schwer erreicht werden kann, weil der gewählte Weg zu einem anderen Ziel führt (der Vor-Lesung). 3. Die freie Rede braucht nicht weniger Vorbereitung als die schriftlich erarbeitete. Freie Rede ist weder unvorbereitet noch manuskriptfrei! Sie setzt eine gründliche Beschäftigung mit dem biblischen Text und seinen Kontexten voraus. Ich muss dem Text begegnet sein und diese Begegnung muss in mir geklärt sein, bevor ich anderen zur Begegnung mit dem lebendigen Text verhelfen kann. 4. Grund-legende Voraussetzung für eine frei gehaltene Predigt ist, dass ich weiß, was ich sagen will (Predigt-Ziel), und dass ich weiß, wie ich es sagen will (Predigt-Aufbau). Ich brauche auf meinem Stichwort-Zettel und in meinem Kopf eine "Landkarte", damit ich mich zielgerichtet und in klaren Schritten bewegen kann. Übrigens: Auch bei vielen schriftlich ausgearbeiteten Predigten habe ich Schwierigkeiten, genau dies zu erkennen: Das Ziel und den Aufbau. Dann vermittelt das Manuskript eine scheinbare Sicherheit: Ich kann nicht hängen bleiben, ich komme durch bis zum Ende. Aber trotz dieser äußerlichen Sicherheit wird die Gemeinde innerlich unsicher bleiben. 5. Freie Rede ist zunächst mit Angst verbunden - mit der Angst, es könne "eng" werden, mir könnten die Worte ausgehen, ich könnte mich verheddern, ich könnte schwafeln. Diese Angst ist normal. Ich kann mit ihr leben, wenn ich mich zum einen gut vorbereite und zum andern die freie Rede zunächst im kleinen, überschaubaren Rahmen übe. 6. Niemand wird erwarten, dass wir uns übergangslos zur freien Rede entschließen. Es wird darauf ankommen, dass wir - wenn wir es denn wollen! - kleine Orte suchen, an denen wir sie einüben - den Einstieg beispielsweise oder erzählende Passagen, Gottesdienste in Au- ßenorten (mit geringerer Teilnehmerzahl) oder Kurzandachten während der Woche. Vor einigen Jahren habe ich in einem Fernseh-Gottesdienst gepredigt. Bei der Vorbereitung wurden wir von einem Kollegen beraten. Bei einer Besprechung meines Predigt-Entwurfs sagte er zu mir: "Bei der Gottesdienst-Vorbereitung erlebe ich sie ganz anders als in ihrem Predigt-Entwurf. Im Gespräch sind sie anschaulich, da haben sie Witz, da ist der Kontakt zu den anderen da. Ihr Manuskript ist dagegen verkopft und theoretisch. Machen Sie sich doch einmal Stichwörter, und predigen sie dann zuhause vor einem Kassetten-Rekorder. Wenn sie das abschreiben und überarbeiten, wird ihr Manuskript viel lebendiger!" Ich habe diesen Tipp in den letzten Jahren oft weitergegeben. Literaturhinweise: Zerfaß, Rolf. Grundkurs Predigt 1. Spruchpredigt. 5. Aufl. 1997. Patmos Verlag Düsseldorf, DM 34,80 Zerfaß, Rolf. Grundkurs Predigt 2. Textpredigt. 2. Aufl. 1997. Patmos Verlag Düsseldorf, DM 39,80 Damblon, Albert: Frei predigen. Ein Lehr- und Übungsbuch. 1991. 120 S., Patmos-Verlag, kart. DM 19,80 Pfarrer Hermann Birschel