Ein Wort zu dieser Andachtsreihe: Die Andachten haben jeweils nur eine ganz kurze Auslegung. Sie sollen mehr zum Kennenlernen der Passionsgeschichte dienen - ein Wort aus dem Text soll bedacht werden - vielleicht einmal zwei. Psalm, Lied und Gebet runden die kleinen Passionsandachten ab. 4. Text aus der Leidensgeschichte nach Johannes: Jesu Geißelung und Verspottung 19,1 Da nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln. 19,2 Und die Soldaten flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie auf sein Haupt und legten ihm ein Purpurgewand an 19,3 und traten zu ihm und sprachen: Sei gegrüßt, König der Juden! und schlugen ihm ins Gesicht. 19,4 Da ging Pilatus wieder hinaus und sprach zu ihnen: Seht, ich führe ihn heraus zu euch, damit ihr erkennt, daß ich keine Schuld an ihm finde. 19,5 Und Jesus kam heraus und trug die Dornenkrone und das Purpurgewand. Und Pilatus spricht zu ihnen: Seht, welch ein Mensch! 19,6 Als ihn die Hohenpriester und die Knechte sahen, schrien sie: Kreuzige! kreuzige! Pilatus spricht zu ihnen: Nehmt ihr ihn hin und kreuzigt ihn, denn ich finde keine Schuld an ihm. 19,7 Die Juden antworteten ihm: Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muß er sterben, denn er hat sich selbst zu Gottes Sohn gemacht. 19,8 Als Pilatus dies Wort hörte, fürchtete er sich noch mehr 19,9 und ging wieder hinein in das Prätorium und spricht zu Jesus: Woher bist du? Aber Jesus gab ihm keine Antwort. 19,10 Da sprach Pilatus zu ihm: Redest du nicht mit mir? Weißt du nicht, daß ich Macht habe, dich loszugeben, und Macht habe, dich zu kreuzigen? 19,11 Jesus antwortete: Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben her gegeben wäre. Darum: der mich dir überantwortet hat, der hat größere Sünde. 19,12 Von da an trachtete Pilatus danach, ihn freizulassen. Die Juden aber schrien: Läßt du diesen frei, so bist du des Kaisers Freund nicht; denn, wer sich zum König macht, der ist gegen den Kaiser. 19,13 Als Pilatus diese Worte hörte, führte er Jesus heraus und setzte sich auf den Richterstuhl an der Stätte, die da heißt Steinpflaster, auf hebräisch Gabbata. 19,14 Es war aber am Rüsttag für das Passafest um die sechste Stunde. Und er spricht zu den Juden: Seht, das ist euer König! 19,15 Sie schrien aber: Weg, weg mit dem! Kreuzige ihn! Spricht Pilatus zu ihnen: Soll ich euren König kreuzigen? Die Hohenpriester antworteten: Wir haben keinen König als den Kaiser. 19,16 Da überantwortete er ihnen Jesus, daß er gekreuzigt würde. Kleine Auslegung: Liebe ZuhörerInnen! Zu diesen Versen wäre eine Menge zu sagen: Wie verhetzt die Menschen sind. Über das hin und her der Schuldfrage und der Schuldzuweisung. Über das Verhalten Jesu, der jetzt mit seinem schrecklichen Schicksal abgeschlossen hat. Aber - wie jedesmal - für alles das ist kein Platz in dieser Andacht. Mich hat wieder eine Sache, ein Zug dieser Geschichte besonders berührt: Das ist die Angst des Pilatus! Er will sich herauswinden aus der Geschichte. Er will nichts mit dem Blut dieses Menschen zu tun haben. Dieser "König", wie er ihn selbst nennt, ist ihm unheimlich! Mehrfach versucht er, ihn zun retten: "Ich finde keine Schuld an ihm!" Er will mit Jesus reden, ob er ihm nicht doch einen Anlaß liefert, ihn freizulassen. Und schließlich diese letzte, fast verzweifelte Frage des Statthalters: Soll ich euren König kreuzigen? Nein, es ist deutlich, Pilatus hat Angst vor dem, was er hier tun muß und letztlich verantworten muß. Ist das nicht ganz erstaunlich? Der mächtige Römer, Chef der Besatzungsmacht in Israel, der hätte tun und lassen können, was ihm nur beliebt, der sicher schon viele Menschen an den Galgen und ans Kreuz und zum Richtblock geschickt hat, ausgerechnet der fürchtet sich jetzt vor diesem harmlosen, gebundenen Mann aus Galiläa. Und er staunt: "Seht, welch ein Mensch!" Was ist der Grund für sein merkwürdiges Verhalten? Ich kann das nur mit der Ausstrahlung dieses Jesus von Nazareth erklären. Vielleicht mit der inneren Stärke, mit seinem Mut, seiner Unerschrockenheit... Was es nun ganz genau war, weiß ich nicht, aber es hat Pilatus beeindruckt und nicht nur ihn: Denken wir an den römischen Hauptmann, der später unter dem Kreuz bekennt: Wahrhaftig, dieser ist ein frommer Mensch gewesen! Wohlgemerkt: Ein Heide spricht hier! Was ich mir aber sage und was ich ihnen gern damit sagen will: Dieser Jesus muß in den Stunden der größten Angst und der schlimmsten Not einen Beistand gehabt haben, der nicht von dieser Welt war. Diese Sicherheit, dieses furchtlose Reden und Verhalten mit dem schrecklichsten Tod vor Augen, das kann nur einer bestehen, der weiß, daß er in der Hand eines Größeren ist. Diesen Größeren nennt Jesus seinen, unseren himmlischen Vater. Und ich glaube fest: Pilatus hat hinter dem Blick und der Haltung dieses kleinen, ohnmächtigen, im Grunde armseligen Gefangenen die Macht Gottes geahnt, gespürt. Darum hat er Angst. Darum wollte er am liebsten nichts mit diesem Menschen und seiner Verurteilung zu tun haben. Warum der Gott, der hier diesen Weg mit seinem Sohn geht, diesem seltsamen König den Tod nicht erspart, das konnte er nicht ahnen geschweige denn verstehen, das haben ja nicht einmal die frommen Juden, die hier den Tod Jesu fordern, verstanden, und das verstehen wir ja bis heute nicht so ganz. Aber halten wir das fest: In der Stunde der Not ist auch Gottes Kraft bei seinen Leuten. Wenn wir durchs Leiden gehen, sind wir begleitet. Wir werden dann so stark sein, daß die Menschen um uns her nur staunen können.