Von Kinderpipi und Pferdeäpfeln Die Überschrift, das muss man sagen, stellt für sich selbst schon viele Fragen, vor allem die: Ob der dies schreibt, auch hier nur „wenig“ übertreibt? Wer kann als Überschrift verwenden, was keiner gern mit seinen Händen noch sprechend mit dem Mund berührt? Ob das der Autor gar nicht spürt und ob nicht, was er früh’r geschrieben, oft auch schon schrecklich übertrieben und ziemlich aufgeblasen war?! - In jedem Fall ist offenbar: Den „Pferdeäpfeln“ ist’s gelungen: Der Leser hat - schon fast gezwungen! - die ersten Zeilen vom Gedicht gelesen und er wird’s auch nicht (der Neugier auf den Ausgang wegen!) jetzt vor der Zeit beiseite legen. So ist es also wohl ein Muss, er liest es weiter bis zum Schluss und wird sich gar ein wenig eilen! - Doch worum dreht sich’s in den Zeilen des hier gebotenen Gedichts? Es geht um Fragen des Gewichts, mit dem wir Kleines groß bemessen, tatsächlich Großes unterdessen, ganz gegen Wirklichkeit und Schein, bewerten, so, als wär’s ganz klein und nicht einmal ein Wort verlieren ... - Doch will ich, ohne läng’res Zieren, vielmehr in großer Offenheit und frei von falscher Peinlichkeit zum Kern des Themas mich begeben: Die Lebewesen, wenn sie leben, sind - grob gesprochen - wie ein Schlauch. Der Mund ist oben, durch den Bauch geht’s dorthin, wo er unten endet und etwas in die Umwelt sendet, worüber man nur selten spricht - doch heute, Leute, geht das nicht! Das Thema fordert zu benennen, worunter wir das „Etwas“ kennen. Ich wähle ohne Prüderie zunächst das schöne Wort „Pipi“, das wohl dem Kindermund entsprungen. So ist nun auch der Sprung gelungen zu dem, was neulich irgendwo - ich wahre das Inkognito des Dorfs im Vogelsberg - geschehen: Man konnte eine Mutter sehen, die grad ihr Kind (so zwei bis drei ... ob Mädchen, Bübchen - einerlei!) geschwind zum Rand der Straße führte, weil wohl das Kind ein Rühren spürte, denn dort - die Mutter hielt es fest - hat’s mit Pipi das Gras genässt. Soweit erstmal. - Nun wissen alle, ein kleines Kind in diesem Falle ist ohne Schuld: Des Rührens Lauf hält noch kein fester Wille auf. Und auch die Mutter, wird man denken, hat nur die Möglichkeit zu lenken, damit es nicht ins Höschen geht. Und ob nun Gras, ob Blumenbeet, Asphalt, Beton und Hausfassaden, es wird wohl kaum erheblich schaden! Drum liegt man sicher ganz verkehrt, wenn man des Kindes Rühren wehrt. - Doch hört gut zu, denn ich berichte euch jetzt den Fortgang der Geschichte: Gerade eben ist’s vollbracht, das Kind hat sein Pipi gemacht, es wirkt gelöst und lächelt heiter und beide geh’n die Straße weiter ... Da tritt von hinten momentan der Eigentümer auf den Plan, des Grundstücks, also jener Stätte, die eben diente als Toilette ... Des Mannes Kopf und Hals sind rot, er scheint vom Schlaganfall bedroht und schreit nun unter wildem Schnaufen, mit Stampfen und mit Haare raufen des Kindes Mutter hinterher. Und was er schreit ist zornesschwer, ganz unerbittlich sind die Worte: Es gebe überall Aborte, die öffentlich und kostenlos! Es wäre rechtlich ein Verstoß! Von einer Mutter! Nicht zu glauben! Dem Kind die Notdurft zu erlauben auf seinem Gras und seinem Grund! Jetzt schweigt der Mann und hält den Mund, denn eben naht von vorn ein Reiter auf einem Pferd, dann noch ein zweiter, und beide, wie’s der Zufall (?) will steh’n neben jenem Manne still, weil jetzt das schon erwähnte Rühren auch diese beiden Pferde spüren - und das mit Vehemenz und Druck: Schon steht der Mann, ein Ruck, ein Zuck, fast knöcheltief in Kilomassen von Pferdeäpfeln, groß wie Tassen. Das zweite Pferd gibt jetzt im Nu zehn Liter Rosspipi dazu, worauf die Reiter stolz entreiten. - Schreit jetzt der Mann? Kriegt er den zweiten, noch größ’ren Anfall seiner Wut? Im Gegenteil: Ihm schwand das Blut aus Kopf und Hals. Als bleiche Säule steht er ganz still im Dung der Gäule, sein Auge starr, der Mund verstummt, die Füsse ganz vom Dreck vermummt, wie leblos hängen Arme, Hände ... - Wir, liebe Leser, sind am Ende, doch so wie meist steht jetzt am Schluss, was man als Lehre ziehen muss und ob es wahr, was ich berichtet. Nun ja, der Schluss war nur erdichtet und doch - auf andre Weise - wahr: Vielleicht, so hoffe ich, wird klar, wie feig es ist, nur die zu rügen und ihnen Böses zuzufügen, die klein sind, ohne Schuld und schwach. Und ich bin ehrlich: Hundertfach müsst’ ihnen solches widerfahren, was hier die Pferdeäpfel waren, die ein Verhalten, mies und schlecht, so rasch und wundersam gerächt. Man wage sich an solche Sachen, wie sie die großen Tiere machen, die liefern meist den größten Mist! (Auch wenn’s kein Pferdeapfel ist.) Manfred Günther Nur wenig übertrieben! - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 95