Ein Alptraum (Ullas nächtliche Schrecksekunden im Haus „Abendfrieden“) Ich hab’ mir heute vorgenommen, euch wieder mal recht ernst zu kommen: Dazu erzähle ich euch was (auf meine Quelle ist Verlass!) von einer Frau aus höchsten Kreisen der Pflegekasse „Altes Eisen“*, ein Seitenzweig der AOK**. Die Frau heißt richtig „Ursula“, doch woll’n wir uns des Versmaß’ wegen hier kurz auf „Ulla“*** nur verlegen, so passt es besser ins Gedicht. - Die Ulla lang vorm Morgenlicht liegt da in Schlaf und schweren Träumen: Gerade tritt ganz ohne Säumen - es ist erst gegen halber Vier! - Nachtschwester Herta Schluckebier im Pflegeheim ins Dreibettzimmer. Noch zeigt sich draußen nicht ein Schimmer des neuen Morgens, doch im Heim gibt’s Kräutertee mit Haferschleim, denn zeitig muss man hier beginnen, weil schließlich nachts die Pflegerinnen mit Achtzig Alten nur zu zweit und füttern fällt in ihre Zeit und die ist um in gut zwei Stunden. Schon wird das Lätzchen umgebunden, (der Ulla und den andern zwei) dann gibt’s im Dreiertakt den Brei: Ein Löffel hier und dort noch einen, den dritten noch ... der ging aufs Leinen! (Nun ja, das Waschen und das Bett macht Schwesternschülerin Annett vom Tagdienst, die ist ziemlich fleißig und kommt ja auch um fünf Uhr dreißig.) Hier jedenfalls hat Herta bald - nach drei Minuten Aufenthalt! - die Morgen-Fütterung beendet und löscht das Licht. Die Ulla wendet den Kopf erschöpft dem Kissen zu und auch die andern suchen Ruh’ mit Latz am Hals und Brei im Munde ... Doch bleibt nur eine gute Stunde, denn heut’ ist’s wieder Mal soweit für’s Waschen mit „Hygiene“-Zeit, die nämlich gibt’s nicht alle Tage! Haus „Abendfriedens“ Haushaltslage erlaubt sie nicht, die eine Kraft, die lang schon fehlt, dass man es schafft, die Waschung täglich abzuhalten. (Wie soll’s auch geh’n bei Achtzig Alten und Vier zwei Fünftel Pflegern nur und dann in Schicht, rund um die Uhr!? -) Bei Ulla steht die Tür jetzt offen, Annett ist eben eingetroffen und „wäscht“ - die Zimmertür bleibt auf! - drei Frauen hier im Dauerlauf, jedoch - wir sehen’s mit Befremden - die Damen tragen noch die Hemden. Es scheint, sie wäscht nur das Gesicht, den ganzen Leib wohl heute nicht? Nein, keine Zeit, man muss sich sputen: Rund um die Nasen, zwei Minuten, dann übern Kopf mit nassem Schwamm, zum Schluss zwei Striche mit dem Kamm, ein Tätscheln noch der linken Wange (zwei Augenblicke nur, nicht lange!), dann ist die Waschung auch vollbracht. Die Zimmertür wird zugemacht und Ulla hat für vier, fünf Stunden jetzt zu sich selbst zurückgefunden, das heißt: Sie bleibt mit sich allein und das bedeutet Einsam-Sein, sich übrig fühlen, sehnen, leiden, genau wie für die andern beiden. - Wir zieh’n den Strich. Des Tages Rest gibt auch nichts her, was hoffen lässt, es könne das System „sich machen“. - Wir lassen Ulla nun erwachen: Sie blinzelt mit den Augen jetzt, dann geh’n sie auf, sie wirkt entsetzt, im Blick liegt Abscheu und Erschrecken. Noch kann den Haferschleim sie schmecken, noch spürt sie tiefste Einsamkeit, noch fühlt sie sich zur Tat bereit: Es muss sich schleunigst manches wenden! - Hier sollen meine Verse enden. Ich bin gespannt, was Ulla tut und hoffe, sie behält den Mut, vor allem auch den festen Willen (ganz öffentlich, nicht nur im Stillen) und bleibt dabei ganz unbeirrt, dass Pflege wieder menschlich wird und Alten Schönes ist beschieden, nicht nur im Hause „Abendfrieden“, vielmehr in jedem Einzelfall: im Heim, zu Haus und überall, dass auch die Alten Glück erfahren! Nur eins ist wichtig: Nicht zu sparen, zumindest nicht an Zeit und Geld! - Ein letztes, auch wenn’s nicht gefällt: Wir, die noch jünger, sind die Täter, die Schöpfer dessen, was uns später das Leben hell macht - oder kalt. Wir alle werden einmal alt! Manfred Günther * Der Name ist geändert. ** AOK = Alles ohne Kostenerstattung *** „Ulla“ ist nicht ganz zufällig gewählt! Nur wenig übertrieben! - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 78