Werte 1 (Das Grüßen) In unsrer Schulzeit war’s die Fibel, als Konfirmanden dann die Bibel, die in Geschichten uns erklärt, womit man gut durchs Leben fährt, was menschlich heißt, was recht und richtig, was unmoralisch ist und nichtig. Was ernst und wichtig, was nur Spiel und wo der Weg liegt und das Ziel, was gute und was schlechte Orte. Auch gab es Sprich- und Weisheitsworte, zum Beispiel, dass, wer lieber schweigt statt redet, größ’re Klugheit zeigt und dass die frühe Morgenstunde hat (neben Zahncreme) Gold im Munde, doch auch (wir glaubten’s unbeirrt!), dass wer nichts rechtes wird, wird Wirt! Doch diese Worte sind verklungen bei Alten und erst recht bei Jungen. Die Fibel schweigt und leider auch die Bibel. Was noch in Gebrauch ist Fernseh’n und die Tageszeitung. Für mich jetzt eine Überleitung nicht nur zum heutigen Gedicht: Ein Verse-Zyklus* wirft ein Licht und lenkt den Blick auf unsre Werte, noch von den Eltern hoch verehrte Verhaltensregeln. Kurz gesagt: In Zukunft wird hier hinterfragt, was einmal galt und was nun heute für große und für kleine Leute noch in der Praxis wirklich gilt. So zeigt sich nach und nach ein Bild von dem, was - wie es scheint - verloren (selbst wo’s von manchen noch beschworen!), was nicht mehr so wie früher misst, vielleicht jedoch zu retten ist und wie, indem wir uns besinnen, wir gute Werte neu gewinnen. An fünf, sechs Folgen ist gedacht. Hier wird der Anfang jetzt gemacht: Es geht im ersten der Gedichte um eine von Bedeutung schlichte, geringe Sache, wie es scheint: Der „Gruß“, das „Grüßen“ ist gemeint. Um dies jetzt praktisch zu entfalten, geht unser Blick zu unsern Alten, die heut’ so um die Achtzig sind. Auch diese waren ja mal Kind und damals war es selbstverständlich (nicht nur, wo die Umgebung ländlich!), dass einer Ehrerbietung zeigt, vielleicht indem den Kopf er neigt, nach Alters- und Gesellschaftsleiter als erster oder auch als zweiter den Gruß entbietet, der dann meist „erwidert“ wurde, wie es heißt. Was unsre Alten auch noch wissen: Für jeden Fall war streng umrissen, wer erster und wer zweiter war: So war es für die Jungen klar, dass sie des Alters Ehre achten, indem sie „Knicks“ und „Diener“ machten (heut’ selbst als Wörter unbekannt!). Ein Mann von Art und mit Verstand kam stets zuvor dem Gruß der Damen! Und hatte wer ein „von“ im Namen, dann war’s auch hier ein klarer Brauch: Man zog den Hut (die Mütze auch!) und machte rasch als Ehrbezeugung die angemessene Verbeugung und sprach den Gruß, dann wiederum blieb auch der mit dem „von“ nicht stumm. - So also war’s, wer kann’s bestreiten, in gar nicht allzu fernen Zeiten. Jedoch, hier kommt die Frage auf: Beklagt der Dichter den Verlauf von solcher „Höflichkeit“ nach Rängen zum Grüßen heute, frei von Zwängen? Ist denn nicht besser, diese Welt, in der die Menschen gleich gestellt und niemand ehren, wenn sie sollen, vielmehr nur grüßen, wenn sie wollen? - Hier kommt nun ein ganz klares Wort: Ist erst der Halt der Ordnung fort, dann bleibt nichts mehr und gibt’s kein Halten! Doch will ich’s deutlicher entfalten: Es geht, ganz ohne Diskussion, (und das seit 50 Jahren schon!) nicht mehr um irgendwelche Ränge, um Adel nicht, des Titels Länge, von mir aus, auch nicht ums Geschlecht (man merkt’s, das passt mir nicht so recht!), auch soll es nicht ums Alter gehen. Doch eines gilt und bleibt bestehen: Dass man die Ehrerbietung spürt, die Frau und Mann und Kind gebührt und dass ich ihre Würde achte sie - so wie mich - als Mensch betrachte, der, ob in Dörfern oder Stadt, auf meine Achtung Anspruch hat, weil er - durch Schöpfung auserlesen - so wie ich selbst, ein menschlich Wesen, nicht weniger als ich, nicht mehr. Und dass ich dann im Gruß-Verkehr sofern ich seinen Namen kenne auch deutlich hörbar diesen nenne! Was glaubt ihr, wie sich mancher freut! - So viel zum Gruß und Schluss für heut’. Beim nächsten Mal (in ein, zwei Wochen*) wird von „Courage“ hier gesprochen, im „Werte-Zyklus“, zweiter Teil. Nun seid recht schön gegrüßt derweil! Manfred Günther * Der Gedichte-Zyklus „Werte“ geht nicht wöchentlich, sondern in lockerer Folge weiter. Nur wenig übertrieben! - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 72