Die Lüge ist überall Mein Thema heute rührt an Sachen, die nicht nur Christen Sorgen machen: Die Lüge nämlich, das ist klar, wird allenthalben offenbar und zwar im Großen wie im Kleinen: In Politik, in den Vereinen, selbst in den Kirchen und im Staat, gesellschaftlich und auch privat. Doch äußert sie sich sehr verschieden: Als Rufmord und im Ränke-Schmieden, beredt, doch öfter wortlos auch, als lange eingeübter Brauch und bei Gericht durch Eid beschworen. Wohl manchmal auch durch Not geboren, wenn einer im Gesprächsverkehr bemerkt, jetzt hilft nichts andres mehr. In jedem Falle heißt zu lügen, die andern Menschen zu betrügen, indem man Wahrheit beugt und biegt. Wobei mir heute daran liegt, den LeserInnen zu erhellen, wie Lüge sich in vielen Fällen verstellt und in der Wahrheit Kleid sich tarnt mit viel Geschicklichkeit, um mal mit Worten, oft mit Werken (und so, dass wir es gar nicht merken) gesunde Vorsicht abzubau’n und Platz zu schaffen für Vertrau’n ... - Bis hierher war es theoretisch, hier kommen nun - und das poetisch - drei Fälle aus der Praxis dran, an denen jeder sehen kann, wie rasch die Jungen und wir Alten, die Lüge für die Wahrheit halten und Opfer werden bloßen Scheins! Hier ist das Praxis-Beispiel eins: Akteure sind die uns bekannten Berliner Staats-Repräsentanten, besonders, die man mächtig nennt in der Partei, im Parlament, mit dem Mandat, uns zu regieren. Man staunt, wie wenig sie sich zieren, wenn vor der Kamera ihr Mund beschwört, des „Handelns tiefster Grund und Antrieb ihres Wollens“ wäre, nicht etwa eigene Karriere, vielmehr des „Volkes Weh und Wohl!“ - Was klingt das abgeschmackt und hohl, bedenkt man ihre Traum-Diäten, das Honorar aus Aufsichtsräten, Entschädigungen, Sitzungsgeld ... und freie Flüge um die Welt ... Doch sagen sie, ihr Trachten, Sinnen, es gälte Bürgern, Bürgerinnen und ihrem deutschen Vaterland! Wär’ hier ein Balken rasch zur Hand, er wäre ganz und gar verbogen, denn was sie sagen ist gelogen! - Schon kommt mein Beispiel Nummer zwei (wir holen’s gar nicht weit herbei), es spielt im Kirchgemeindeleben: In A-Dorfs kleiner Kirche geben die Menschen heut’ ein Abschiedsfest: Herr Pfarrer Hasenzahl verlässt nach zwanzig Jahren seine Stelle. Wie’s scheint, geht eine warme Welle von Sympathie durch jedes Herz. Man blickt gerade kanzelwärts, wo gleich, die Predigt zu beginnen (er ist schon auf dem Treppchen innen), in A-Dorf wohl zum letzten Mal der gute Pfarrer Hasenzahl das Wort an die Gemeinde richtet. (Wo sonst die Reihen stark gelichtet, sitzt heute alles dicht an dicht.) Jetzt kommt er durch die Tür in Sicht, um gleich mit Stimmgewalt zu starten. Für die Gemeinde heißt’s zu warten, denn dies ist Hasenzahls Problem: Er predigt, was nicht angenehm!, staubtrocken eine volle Stunde! Wir ahnen’s, dass aus diesem Grunde der Kirchbesuch sonst mager ist. Aus gleichem Grund ist, dass ihr’s wisst, beim Abschied heute das Gebäude so proppenvoll! Aus purer Freude: Sie ist vorbei die böse Zeit der Hasenzahlschen „Trockenheit“! Dann endlich ist es ausgestanden (die Orgel weckt die Konfirmanden), man singt ein Lied, dann hebt ein Mann aus dem KV* zu reden an: Ganz A-dorf könne es nicht fassen, Herrn Hasenzahl heut’ zieh’n zu lassen, den besten Prediger im Land! - Wär’ hier ein Balken rasch zur Hand, er wäre ganz und gar verbogen, denn was wir hören ist gelogen! - Das dritte Beispiel noch zum Schluss (dem Leser selber zum Verdruss!): Man hört so oft in diesen Tagen, wie Menschen über andre klagen: Es gäbe bald in dieser Welt nicht einen, der sein Wort auch hält und der auch in der Tat verlässlich. An dieser Stelle scheint es pässlich, dass auch wir selbst mal in uns geh’n: Kannst du, kann ich denn widersteh’n, wenn Lüge billig, Wahrheit teuer? (Man denke hier nur an die Steuer.) Wer ließ sich nicht verleugnen schon, ruft einer an am Telefon, auf den wir grade gern verzichten? Auch sind wir Meister im Erdichten von Gründen, wenn wir wo als Gast Termin und rechte Zeit verpasst. Und manchmal wär’ schon, wie wir schauen, ein guter Grund uns zu misstrauen, weil auch ein treuer Blick oft lügt und mancher Augenaufschlag trügt, wie auch die Geste unsrer Hände. Doch denk’ ich mir, wir sind am Ende und haben auch für uns erkannt: Wär’ oft ein Balken uns zur Hand, er wäre ganz und gar verbogen, denn auch von uns wird viel gelogen! - Für heute schließt hier mein Gedicht. Seid brav, ihr Leute! Lüget nicht! Manfred Günther * KV = Kirchenvorstand Nur wenig übertrieben! - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 64