Das Zeichen Herr Pfarrer Horn aus Edenkoben* steht eben auf der Kanzel oben und blickt sich in der Kirche um, wer heut’ zu ihm als Publikum den Weg zum Gottesdienst gefunden. Die Orgel spielt noch 10 Sekunden, ein Zeitraum, der dem Pfarrer leicht zur ersten Orientierung reicht: Ganz hinten sitzen 13 Frauen, meist hörgeschädigt, darum schauen sie um so schärfer jetzt nach vorn, um von den Lippen Pfarrer Horn die Predigtworte abzusaugen. Er schwenkt nach unten seine Augen, wo ganz alleine Müllers Gritt, die Konfirmandenschar vertritt. Das junge Pärchen in der Mitte erfüllt heut’ ihres Pfarrers Bitte, dass sich ein Paar vorm Hochzeitsfest im Gottesdienst mal sehen lässt. Zuletzt sieht Horn nach rechts hinüber, dort lächelt süßlich Marga Stüber*, des Ortes „Presseagentur“. Davor die Bank besetzt heut’ nur des Pfarrers Nachbarin, Frau Treben*, die, als sein Blick sie streift soeben, dem Pfarrer mit den Fingern sacht und vorsichtig ein Zeichen macht. Die Stüber sieht’s, doch kann’s nicht deuten: Was meint die bloß, wenn vor den Leuten, sie Horn ein solches Zeichen gibt? Ist Käthe Treben wohl verliebt in unsern Pfarrer? Will sie sagen, sie wolle ihn nachher was fragen, wenn die Gemeinde heimwärts ging? Ob Horn das Zeichen wohl empfing? Doch nein, ihm ist nichts anzumerken. Er schickt sich, geistlich sie zu stärken, jetzt an, dass er den Leuten weist, was christlich, gläubig leben heißt, denn solches wird von ihm erwartet. Doch Marga, als die Predigt startet, ist weder hör- noch denkbereit. Sie grübelt nur die ganze Zeit (wo Christen besser lauschen sollten!), was Käthes Finger sagen wollten und was ihr Zeichen wohl bezweckt. Zwar von der Schulter halb verdeckt war’n doch zwei Finger zu erkennen, die - wie bei Scheren - erst sich trennen und wieder treffen wie beim Schnitt. Was aber meinte sie damit? - Derweil nun Horn die Seelen kräftigt, ist Marga Stüber auch beschäftigt, jedoch mit anderm Gegenstand. Zwar blickt zu Horn sie unverwandt, doch hat sie nicht so wie die Frommen der Predigt Inhalt mitbekommen, als endlich „Amen“ laut erschallt und Horn den Kanzelaufenthalt mit Gruß und Segen jetzt beendet. Doch da, noch ehe er sich wendet, und von der Kanzel niedersteigt, bewegt sich Käthe, ja, sie zeigt mit Gesten, die den ersten gleichen, noch einmal Horn das selbe Zeichen ... und Marga Stüber hat’s geseh’n! Dann später beim Nach-Hause-Geh’n beginnt es auch mit ihr zu sprechen: Die Ehe Horns ist am Zerbrechen (die „Fingerschere, die sich teilt“), die Liebe Käthes aber heilt des wunden Herzens böse Schrammen (die „Fingerschere geht zusammen“). So also weiß es Marga jetzt, was sie im Ort in Umlauf setzt: Zwar ist’s für Christen schwer zu fassen, doch wird sich Horn bald scheiden lassen! Er ist - was ziemlich stark schockiert! - mit Käthe Treben fest liiert, das geht wohl Jahre schon ... das Treiben! Wo soll denn nun die Pfarrfrau bleiben und seine Kinder, Piet und Jan? Was tut er seinen Lieben an und dann, was will er mit der Treben!? - Lasst euch von mir jetzt Auskunft geben, wie’s wirklich liegt mit diesem Fall, bevor wir Margas Lügenschwall, der frei erfunden, Glauben schenken. Es ist ganz anders als wir denken: Frau Treben ist wie jeder weiß im Kirchgemeinde-Frauenkreis und hat dort auch den Vorsitz inne und hält - ganz in der Frauen Sinne - zu Pfarrer Horn den Sprechkontakt. In dessen Rahmen gibt’s den Pakt, dass Käthe, wenn die Frauen meinen, es möchte nötig wieder scheinen, dass Horn zum Haareschneiden geht, ein Zeichen gibt, das er versteht und dies, nichts andres!, ist geschehen! Am nächsten Dienstag wird er gehen, denn Käthes Zeichen kamen an! Wobei - was man sich denken kann - die Wiederholung sagen wollte, dass Pfarrer Horn sich sputen sollte, dass er den Figaro besucht! (Drum hat er eben auch gebucht!) - Am Ende noch des ganzen Lehre: Man habe auch im Kopf die Schere, die Phantasie von Wahrheit trennt! Sehr oft ist, was der Schwätzer nennt auf unser Wollen ausgerichtet, durch Übertreibung so gewichtet, dass noch ein Pups wird zum Skandal! - Ihr achtet drauf beim nächsten Mal??? Manfred Günther * Namen und Ort sind geändert! Nur wenig übertrieben! - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 57