Die Gans Agathe (Teil 2) Gut an Silvester vorzulesen! Rund 30 Wochen sind vergangen, die Weihnachtszeit hat angefangen. Die Gans Agathe nudelfett liegt schwer in ihrem Kastenbett - die Gänsemast war nicht vergebens! - erfreut sich ihres Gänselebens und weiß von dem Verhängnis nichts: Heut’ soll beim ersten Schein des Lichts durchs Hackebeil die Gans Agathe den Kopf verlier’n, dass man sie brate und auf dem Christtagstisch serviert. Doch ist noch gar nichts präpariert, kein Richtblock, keine Schlachtungsstätte ... Kathrein und ihre Schwester Jette sind noch im Bett. Man hat die Nacht in Tränen, ohne Schlaf verbracht und keine will sich jetzt erheben. Der erste Sonnenstrahl fällt eben durchs Fensterglas ins Schlafgemach! Eine Seufzen, ein gequältes „Ach” entringt sich jetzt der Brust der einen. Schon ist die andre auf den Beinen und kleidet sich in Eile an (ob sie’s wohl nicht erwarten kann?). Dann sagt sie leis, es ist Kathrine, ganz heiser und mit Leidensmiene: „Ich halte diesen Tag nicht aus! Ich geh’ bis abends aus dem Haus und komm’ erst, wenn’s vorbei ist, wieder!“ Schon drückt Kathrein die Klinke nieder, schleicht an Agathe stumm vorbei (die döst und träumt von Haferbrei), erreicht auch schon die Tür nach außen und reißt sie auf und ist jetzt draußen, wo das, was diesen Tag vergällt, ihr seufzend von der Seele fällt: „Die Jette ist, ich wusst’ es immer, ein ziemlich rohes Frauenzimmer (das hat sie sicher von Papa!) Agathes Blick geht ihr nicht nah! Und leicht führt sie ein Schlachtermesser! Und mit der Axt ist sie noch besser, als wär’s der reinste Zeitvertreib ... Ein richtig kaltes, grobes Weib! Sie mag die Gans alleine essen!“ - Wie geht es Jette unterdessen? Die liegt noch immer regungslos im Bett und denkt, wie mach’ ich’s bloß die liebe Gans - und ohne Schlachten! - recht schnell ins Jenseits zu verfrachten? Da zuckt es kurz im rechten Zeh und schon hat Jette die Idee: Die Gans dem Tode zuzuführen (sie wird sein Kommen nicht mal spüren!), gibt’s eine schöne, leichte Art! Sie geht zur Gans, die schnattert zart und ahnt noch nicht, wie nah das Ende! Ins Bad geht Jette jetzt behende und holt als Tötungsmaterial ein kleines Fläschen Veronal*, das mischt sie (während Tränen fließen), Agathes Leben zu beschließen, in ihren Frühstücks-Haferschleim. Danach verlässt auch sie das Heim, um ihr betrübtes Herz zu schonen und Gänschens Tod nicht beizuwohnen. - Am Abend dann um kurz vor acht erscheinen - als wär’s ausgemacht! - minutenpünktlich beide Damen vor ihrem kleinen Haus in Zahmen. Als erste fragt nun die Kathrein: „Hast du ...? Sonst geh ich nicht hinein!“ Drauf hört man sanft wie Gänsedaunen die Jette „Ja, ich habe ...“ raunen. Dann treten furchtsam sie ins Haus ... Dort sieht es nicht nach Schlachtung aus: Kein Blut an Boden oder Wänden, wie sonst, wenn Tiere tödlich enden, vielmehr: Agathe liegt entseelt, wobei ihr keine Feder fehlt auf saub’rem Stroh in ihrem Kasten. Nun machen, ohne lang zu rasten, die Schwestern sich ans Federkleid. Agathe ruht nach kurzer Zeit schon nackt und bloß auf weißem Leinen. Die Damen trauern, klagen, weinen und fassen schließlich den Beschluss, dass noch die Nacht verstreichen muss, bis man bereit zu weit’ren Taten: Agathe, um sie dann zu braten, zu öffnen und von Innerei’n wie Herz und Leber zu befrei’n. - Am Morgen dann - nach schweren Träumen - wird’s Zeit, Agathe „auszuräumen“. So stehen jetzt die Schwestern auf, betreten beide kurz darauf die Stube ....... wo es leise schnattert! Noch nie war Jette so verdattert und ihre Schwester ebenso: Agathe schwankend aber froh und nackter als sie einst geboren, steht da und zittert, halb erfroren, benommen noch vom Veronal! - Soviel Gedicht für dieses Mal, doch eines sollt ihr auch noch wissen: Bald lag die Gans auf einem Kissen, von Eigenfedern gut gefüllt. Die Nacktheit wurde warm verhüllt noch in der Woche vor Silvester: Kathrine hat, wie auch die Schwester (man ist in Handarbeit geschickt!) je ein Pullöverchen gestrickt, das Gänschens Blöße wechselnd deckte. Drin hat’s die Wiederauferweckte recht warm gehabt zur Winterzeit. Inzwischen ist ihr Federkleid längst flaumig-weiß und dicht geschlossen. - Nie wieder wurde Blut vergossen und nie mehr gab es Schwein und Rind, weil seitdem vegetarisch sind die beiden gänselieben Damen aus Grebenhain im Ortsteil Zahmen ... dort heißt als Dritte des Gespanns: Agathe nur „Pullovergans“. Manfred Günther * Veronal = lang wirkendes Barbiturat, das als Schlafmittel genutzt wird. Nur wenig übertrieben! - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 50