Mehr Wahrhaftigkeit! Wenn’s stimmte, dass, wenn wer gelogen, ein Balken würde gleich zum Bogen, dann sähe bald wohl manches Haus ganz schief und ziemlich seltsam aus. Denn eines muss man einfach sagen: Die Lüge zählt zu jenen Plagen, die noch beim Greis und schon beim Kind beliebt und sehr verbreitet sind. Wobei die Unwahrheit verbindet, dass keiner Schlimmes dabei findet, vielmehr von Reue keine Spur. Die Lüge tarnt sich als Kultur, ja, Kunst sogar, in der zu glänzen, und sich als Meister zu bekränzen, erst jener „Künstler“ Sehnsucht stillt - und als gesellschaftsfähig gilt! Doch will ich - mitten aus dem Leben! - für Lügen reichlich Beispiel geben: Das Kind, vom Lehrer angefragt nach seinen Hausaufgaben, sagt: Es hätte lange dran gesessen, doch leider dann das Heft vergessen! - Als zweites kommt ein Lehrer dran: Gesetzt, kein Schüler mag den Mann, auch war er Eigensinnes wegen sehr unbeliebt bei den Kollegen ... Gesetzt, dann wird er pensioniert: Wie herzlich wird ihm gratuliert, wie rühmt man seine Eigenschaften und jammert: kaum sei zu verkraften, der Schule Zukunft ohne ihn! Als Abschiedsgabe (statt Strychnin!) schenkt man ihm Wein dann kastenweise und einen Gutschein für die Reise zur Wellnesskur nach Bad Gastein. - Zum dritten blicken wir hinein ins Chefbüro der Firma Nolte, wo grad ein Kunde wissen wollte, ob wohl der Chef zu sprechen ist. Die Sekretärin greift zur List: Sie deckt kurz ab die Hörermuschel. Dann gibt’s bei Nolte kurz Getuschel. Der Chef - er löffelt ein Dessert - gefragt, „ob er im Hause wär’“, befiehlt, dem Kunden mitzuteilen, er „würde eben auswärts weilen“. Und so geschieht’s. - Nur lügt dabei nicht einer nur, hier sind’s schon zwei! Doch ist auch dieses noch zu steigern (auch wenn wir’s uns zu glauben weigern!), ein Blick zur Politik genügt: Dort wissen viele, wie man lügt! Besonders krass ist’s vor den Wahlen, da nennt man gern ganz andre Zahlen als Wochen später - nach der Wahl! Statt steil nach oben, geht’s ins Tal und niemand - hört man - konnt’ es wissen. So wird gelogen und besch.... (Dabei macht der, der dienen soll, sich oft noch selbst die Taschen voll.) Doch jetzt zu uns. Sind wir wahrhaftig? Wer lügt denn nicht (- zuweilen saftig!)? Der Mann, der bei der Freundin war, sagt selten seiner Frau dann klar: „Ich bin bei meinem Schatz gewesen!“ Und saß seit Dienstschluss er am Tresen, dann heißt’s, man hat sich’s schon gedacht: „Ich habe länger heut’ gemacht“! Doch lohnt es auch noch nach den Frauen in Sachen „Wahrheit“ hinzuschauen: Da gibt’s auch Lügen andrer Art: Man sieht sie an und denkt: Wie zart die Haut, ihr Teint, wie straff die Wangen, gehoben auch, was sonst gehangen, die Frau, der Leser ahnt es schon, dreht an der Uhr - mit Silikon und wirkt - Chirurgen waren fleißig! - statt um die Achtzig jetzt wie Dreißig! (Nun ja, vielleicht wie Vierzig auch!) So lügt auch oft ein glatter Bauch, ein voller Mund und hohe Brauen. Wo Botulinumgaben* stauen, ist stets die Lüge mit im Spiel! - Doch denk’ ich mir, wir sind am Ziel und haben eines jetzt verstanden: Viel von der Wahrheit kam abhanden in der Gesellschaft, in der Welt! Durch Lüge ist sie arg entstellt und nötig wär’s, sie zu kurieren und ihre Schäden zu sanieren, denn Wahrheit ist ein hoher Wert! Doch kann, wer wirklich sie begehrt, die Kur am eig’nen Leib beginnen. Wer Lügen meidet, wird gewinnen! Von ihrer dunklen Macht befreit nur eines: die Wahrhaftigkeit! Manfred Günther * Botulinum = Medikament zur Faltenglättung Nur wenig übertrieben! - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 33