Zwei Schicksale Obgleich es ja die Leser lieben, heut’ wird mal gar nicht übertrieben, vielmehr es soll ganz sachlich sein: Hört von Herrn Groß und von Frau Klein und lasst ihr Schicksal uns entspinnen. Wir wollen mit Frau Klein beginnen: Vor gut zwei Jahren kam ihr Mann mit einer neuen Flamme an und hat Frau Klein, was schwer zu fassen, mit ihren Kindern sitzen lassen: Drei Mädchen, fünf und drei und vier. Herr Klein versprach, ganz Kavalier, den Seinen Unterhalt zu zahlen. Doch dann verzog er nach Westfalen und ward seitdem nicht mehr geseh’n. Inzwischen muss er Stempeln geh’n und ist - so hört man - „Kneipengänger“ und wie Frau Klein Hartz IV-Empfänger. Zurück zu ihr: Mit lieber Not reicht jetzt ihr Geld für’s „täglich Brot“, die Wurst darauf ist unerschwinglich. Seit Wochen sucht sie Arbeit, dringlich!, doch gibt’s ja keine weit und breit und wenn, wann hätte sie denn Zeit sie auch nur halbtags zu verrichten? Sie hat ja doch auch Mutterpflichten und Kindergartenplätze fehlen. Nun hat sich in den Kinderseelen schon arg die Schwermut ausgebreitet. Und auch Frau Klein spürt, ihr entgleitet allmählich jede Lebenskraft: Sie zweifelt oft, ob sie es schafft, die Kinder weiter durchzubringen. Es fehlt an Geld und an den Dingen, die für das Leben nötig sind. Auch Kleid und Schuhe braucht ein Kind dazu noch manche andre Sachen, die nur mit „Stütze“ nicht zu machen. Was also soll Frau Klein nun tun? Sie hastet ohne auszuruh’n durch Last und Mühe ihrer Tage und sucht die Antwort auf die Frage: Ob je sich etwas ändern wird? Wie soll sie denn auch unbeirrt von wirklich arger Not noch leben? Wer wird den Kindern Zukunft geben? (An ihre denkt sie besser nicht!) Wo ist in all dem Dunkel Licht? - Nun zu Herrn Groß: Er lebt alleine in Westberlin, hat ein kleine, doch ziemlich feine Wohnung dort. Die zweite hat er an dem Ort, an dem die Kleins in ihren tristen, zwei Zimmerchen ihr Leben fristen. Für Groß läuft alles, wie er’s mag: Acht Jahre schon im Bundestag kann ihn die Zukunft nicht mehr schrecken: Was er verdient, kann Neid erwecken (es wird pro Monat da wohl liegen, was Kleins in ein, zwei Jahren kriegen!) und sollt’ er seinen Job verlieren (das kann bei jeder Wahl passieren!), dann hat er - drum ist’s ihm nicht bang - gut Sechzehnhundert - lebenslang! Doch eines macht Herrn Groß jetzt Sorgen: Ein Brief kam von Frau Klein heut’ Morgen. Sie fragt darin ganz höflich an, ob Groß den Kleins nicht helfen kann, er wäre doch ihr „Volksvertreter“. Doch wird Frau Klein auch noch konkreter: Sie habe, was doch sicher zählt, Herrn Groß vor Jahren auch gewählt ... - Soweit zu Groß. Wir werden sehen! Kann Groß die Kleins wohl noch verstehen? Ist schlimmes Schicksal ihm egal (- zumal in Zeiten ohne Wahl)? Doch das ist klar: Wenn wir vergleichen, macht jeder hier ein Fragezeichen, ob eins nicht fehlt in unsrer Zeit, was nötig wär: „Gerechtigkeit“? Manfred Günther Nur wenig übertrieben! - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 17