Fragen Sie Frau Sonja Ein Brief an eine Ratgeberseite Ihr kennt - nicht selten sind sie peinlich! - Ratgeberseiten sehr wahrscheinlich, bei denen meist ein Leser fragt und ein Berater Antwort sagt zu irgendeinem Lebensthema. Das läuft dann ab nach diesem Schema: „Was muss ich tun, Frau Amelie, um in der Fernsehlotterie mal richtig Kohle abzusahnen?“ Die Antwort heißt, man wird es ahnen, ganz kurz (doch sicher richtig!) bloß: „Sie kaufen erst einmal ein Los!“ Wir spüren: Solchen Rat zu geben, verändert rasch des Fragers Leben: Er kauft demnächst ein Los und schon gewinnt er endlich die Million! - Bis hierher war es Vorbereitung. Hört jetzt, was neulich in der Zeitung, die jeder kennt im Hessenland in „Fragen Sie Frau Sonja“ stand; es schreibt ein Mann aus Dornholzhagen*: „Ich muss, Frau Sonja, Sie was fragen und hoffe sehr, Sie wissen Rat: Ich bin erst vierzig, war beim Staat gut zwanzig Jahre Tütenkleber. Mein Vater hat es an der Leber und lebt im Daueraufenthalt in einer Trinkerheilanstalt. Die Mutter ist nach Köln* gezogen und handelt dort mit harten Drogen. Die Schwester ist zwar unbemannt, doch mit den Männern gut bekannt, schafft an ... mir unbekanntem Orte. Ein Bruder ist von fauler Sorte, er sitzt im Knast zur Dauerkur. Dagegen ist der andre nur Beamter bei der Stadtverwaltung. Hier nun die weitere Entfaltung der Frage, die mich sehr bedrängt, an der mein ganzes Schicksal hängt: Ich traf da neulich eine Dame, Marlene* ist ihr schöner Name. Ein wirklich liebes, nettes Ding! Erst dreißig, trägt noch keinen Ring. Zehn Jahre war sie im Gefängnis. Ihr wurde (schuldlos!) zum Verhängnis, dass jemand sie dabei ertappt, wie sie die pralle Börse schnappt, von einem, der - wer weiß weswegen? - in ihrem Doppelbett gelegen. Man sperrte gnadenlos sie ein! Jetzt ist sie frei, doch ganz allein und mich, das sage ich ganz offen, hat Amor tief ins Herz getroffen: Sie ist so süß, so hold und nett, so hübsch, so artig und adrett, liebt Treue, Freundlichkeit und Wahrheit, im Zwischenmenschlichen die Klarheit, die ehrlich sich und offen zeigt und nichts beschönigt, nichts verschweigt ... und das, Frau Sonja, lässt mich fragen: Soll ich ihr wirklich alles sagen? Ist eines denn nicht gar zu hart und bremst der Liebe guten Start und lässt womöglich sie missglücken? Soll ich riskier’n aus freien Stücken, dass sie die ganze Sache weiß? Ist nicht Entsetzen dann der Preis, sofern ich’s wage meiner guten Marlene alles zuzumuten? Von meiner Schwester weiß sie schon, den Eltern, mir, dem ersten Sohn. Grad gestern sprach ich auch vom zweiten, dem Bruder, der seit Ewigkeiten die Kur verbringt als Gast im Knast. Doch hab’ ich keinen Mut gefasst, dass ich erzähle auch vom Dritten ... Nochmal, Frau Sonja, möcht’ ich bitten, ein klares Wort aus Ihrem Mund: Wann tu’ ich ihr den Rest noch kund, die böse Nachricht voller Schrecken, so schwer, so grausam zu entdecken, der Fakt, der bis ins Mark schockiert, sodass man den Verstand verliert! Es ist etwas, vor dem mich schaudert und meine Seele angstvoll zaudert. Wann sag’ ich ihr das klare Wort: Mein Bruder lebt im Nachbarort, in Freiheit, als normaler Bürger! Kein Trinker, Dealer oder Würger, nein, verbeamtet und er hat ‘ne Lebensstellung bei der Stadt!“ Manfred Günther * Die Orts- und Eigennamen sind geändert! Längs und quer zur Zeit - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 99