Klassentreffen* Warum nicht wieder die „Goldne Gans“? Ein Mann, er trägt den Namen Steffen, lädt jährlich ein zum Klassentreffen. Sie machten „Fünfzig“ Abitur und waren neunzehn - Männer nur! - und blieben treu in all den Jahren der Wirtschaft, wo sie immer waren, um ihre Feier zu begeh’n: der „Goldnen Gans“ in Freienseen**. - Jahrzehnte sind ins Land gegangen. Was Einundfünfzig angefangen, fand sechzig Mal inzwischen statt! Doch hört, wie sich verändert hat, was Jahr um Jahr die Männer sagen, wenn Steffens Ladungsbriefe fragen, wo denn die Feier steigen soll: Zunächst fand man die Wirtschaft toll, des guten Jägerbratens wegen. (Auch geographisch gut gelegen, für alle Männer nicht zu weit, war sie in nicht zu langer Zeit per Auto günstig zu erreichen und mit der Eisenbahn desgleichen.) Wenn Steffen jährlich nachgefragt, stets wurde „Goldne Gans“ gesagt, der erste Grund: Das gute Essen! - Doch dann gab’s neue Interessen - in Einundsiebzig war das wohl: Nicht Jägerbraten, Klöße, Kohl ... das schöne Kind, das dort servierte und gern mit Gästen kokettierte, zog jetzt die Männer stark in Bann. Vorm Klassentreffen hieß es dann: „Wir woll’n nach Freienseen gehen, das neue Gänschen zu besehen, die ist so niedlich und so fein! Die „Goldne Gans“ soll’s wieder sein!“ So blieb es runde zwanzig Jahre. - Inzwischen trug man graue Haare, war nicht mehr überall gesund ... und wieder wechselte der Grund, warum sie doch für’s Klassentreffen bei ihrem alten Schulfreund Steffen die „Goldne Gans“ als Ziel benannt: „Die Wirtschaft ist nur, wie bekannt, zwei Treppenstufen hoch gelegen! Das ist sehr gut, ein rechter Segen und für die Beine sehr bequem.“ - Zehn Jahre später: „Angenehm liegt dort der Ort ‘für kleine Buben’ im Nebenraum der Wirtschaftsstuben! Wenn rasch ein Rühren dich beschleicht, dann ist er leicht und schnell erreicht!“ - Wer mitgerechnet hat bis eben, der weiß, inzwischen geht das Leben der Männer auf die Achtzig zu! Auch sind wir jetzt - es ging im Nu! - im Einundzwanzigsten Jahrhundert! Seit Jahren schon, was nicht verwundert, liest Steffen solches mehr und mehr beim Klassentreffen-Schriftverkehr als Äußerungen auf die Fragen, zum Ort, die Feier auszutragen: „Wo liegt die Wirtschaft? ‘Freienseen’? Nun ja, warum nicht dorthin geh’n? Für Neues bin ich immer offen! Doch macht der Wechsel auch betroffen. War’n wir nicht immer angetan von Freiensteinaus** ‘Goldnem Schwan’?“ Manfred Günther * Nach dem Witz eines Lesers nacherzählt und verdichtet ** Die beiden Orte am Rand des Vogelsbergs sind nur wegen Reim und Versmaß gewählt Längs und quer zur Zeit - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 97