Andere Zeiten - andere Bilder Was für ein Glück, wenn Enkel kommen! Der Mensch in seinen ält’ren Tagen vollzieht im Denken, Handeln, Sagen so manchen Wandel dergestalt, dass man es merkt: Jetzt wird er alt! Dazu gehören manche Sachen, die wir, schon wenn wir jung sind, machen, die aber dann im Lauf der Zeit, sich zeigen im ganz andern Kleid, in oft doch sehr skurrilen Formen! Auch gelten dann ganz neue Normen und Regeln und ein andres Ziel. Von dem, wie’s war, bleibt oft nicht viel, vielmehr es ändern sich die Dinge, so wie am Baum die Jahresringe oft breit sind, doch ein andres Mal in einem trock’nen Jahr, ganz schmal. - Es wird konkret: Wir wollen sehen, wie Änderungen praktisch gehen und führen jetzt als Beispiel an, wie etwas sich entwickeln kann, wozu schon junge Leute neigen: Gemeint ist hier, das Bilder zeigen: Die Fotos, von der Urlaubsfahrt, der Heini mit Drei-Tage-Bart, die Frieda vor dem Turm von Pisa, der Sonnenbrand der kleinen Lisa, die Reifenpanne bei Madrid, der Prado* und der Eselsritt, die Überfahrt zu den Kanaren, der Mövenkot in Muttis Haaren, die Heimfahrt dann mit Sommerschnee, im Hochschwarzwald, bei Titisee! Das alles zeigt man den Verwandten, den Nachbarn, Freunden und Bekannten. Die schau’n oft neidisch, aber brav, was der Familienfotograf so alles auf die Platte bannte. - Doch gibt’s noch andre int’ressante Motive für die Kamera: Das Hochzeitsbild von Julia mit ihrem Mann, dem schönen Frieder. (Was schlägt sie so die Augen nieder? Denkt sie denn wohl - was oft der Fall! - an das, was jüngst beim Ultraschall sein erstes Bildchen abgegeben?) Bald ist dann da, das neue Leben und sie schwillt an, die Bilderflut: Im Kreissaal noch: Die kleine Ruth, beim Stillen warm in Mamas Armen, geknipst von Säuglingsschwester Carmen, an Papas Brust, von Stolz geschwellt (es wirkt gestellt, wie er sie hält!). Mit Taufe geht es weiter schließlich (der alte Pfarrer blickt verdrießlich, als hätte er die letzte Nacht, mit seiner Predigt zugebracht!). Es folgen viele Jahrestage: Geburtstag, Ostern je nach Lage im Jahreslauf kann’s drinnen sein und draußen auch bei Sonnenschein, am Tisch, auf Sofas oder Bänken, im neuen Kleid und mit Geschenken, im Garten oder vor dem Haus ... - Dann plötzlich geh’n die Bilder aus, denn unsre Kinder sind nach langen, oft schönen Jahren fortgegangen: Ihr Leben ohne uns begann! Bei uns fängt etwas Neues an! Die große Änderung im Reigen der Bilder, die wir andern zeigen, kommt (meist ab fünfzig!) über Nacht! Sie sind jetzt nicht mehr selbst gemacht, die Bilder, vielmehr von Doktoren, von Therapeuten, Professoren, die meistens Mediziner sind. Wir seh’n darauf auch nie ein Kind - jetzt sind wir selbst die Dargestellten! Die Bilder zeigen gar nicht selten den Innenraum von Brust und Bauch, der Leber und der Nieren auch und heute oft von unserm Rücken! Mit solchen Fotos dann beglücken wir Freunde und Bekannte jetzt! Es hätte früh’r uns arg entsetzt als unanständiges Gebaren, hätt’ uns ein anderer vor Jahren dergleichen Bilder vorgelegt! Nun tun wir’s selbst, ganz unbewegt von Scham, ja, finden Bilder schicklich, die weder schön sind noch erquicklich: CT und Röntgen, MRT, vor, während, nach der Bauch-OP, erklären gern auch alle Typen, der Magen- und der Darmpolypen, mit Kenntnis und mit Sachverstand und einem Foto in der Hand, das eig’ne, „neulich erst entstanden!“ und zeigten, wäre es vorhanden, noch in 3D** das Video von dem Furunkel links am Po! - Hier wirkt, der Schicklichkeit zum Segen, ein Enkel positiv entgegen: Er schenkt uns Glück und ein Motiv und lässt uns wieder intensiv des Lebens schöne Seiten sehen und neu zu Bildern übergehen, die hübsch sind und auch zeigenswert. Sehr rasch ist so zurückgekehrt, was früh’r schon unser Herz erfreute! - Fehlt euch der Enkel, liebe Leute, knipst schöne Bilder, die man dann bedenkenlos auch zeigen kann! Manfred Günther * Prado = Museum für bildende Kunst in Madrid ** 3D = Abkürzung für dreidimensional Längs und quer zur Zeit - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 95