Der Axtdieb Eine alte Geschichte* - für heute gedeutet Vor hundert Jahren ist’s gewesen, da hackt im Lande der Chinesen Fung Li in seinem Schuppen Holz mit einer Axt - sein ganzer Stolz, denn gute Äxte waren selten und mussten auch als teuer gelten. Dann schichtet er die Scheite auf. Es war schon spät im Jahreslauf, der Winter sandte erste Zeichen. Bald würde Reif die Felder bleichen und Schnee die Landschaft überzieh’n. Der Vorrat Holz ist gut gedieh’n, so macht Fung Li sich keine Sorgen: Und kämen Frost und Kälte morgen, er hätte es behaglich warm. Ein Bündel Scheite unterm Arm schlurft er, das Feuer zu entfachen und heißen grünen Tee zu machen, jetzt in sein Haus, an seinen Herd. Nachdem ein Tässchen Tee gelehrt, geht er hinaus, die Axt zu holen. Das Werkzeug aber scheint gestohlen! Er sucht im letzten Abendlicht, sucht angestrengt, doch findet nicht. - Die Nacht ist lang, will nicht vergehen. Bei Dämmerung schon kann man sehen, Herr Li schaut gründlich überall: Im Schuppen, dann im Hühnerstall, im Schweinekoben und im Keller ... Allmählich wird es draußen heller, da kreuzt die Straße Nachbar Lo, sieht angestrengt nach Irgendwo, weicht sichtlich aus des Nachbars Blicken, erwidert weder Ruf noch Nicken, die ihm Fung Li hinüberschickt. Lo wirkt wie einer, der verstrickt in eig’ne Bosheit und Verbrechen, nicht grüßen will und auch nicht sprechen, vielmehr die andern Menschen scheut. Warum ist Lo so anders heut’, schon in des Tages ersten Stunden, so fremd, wie innerlich gebunden? Hat er denn Böses wohl getan und ist jetzt auf der schiefen Bahn? Kam die gesuchte Axt am Ende, weil er sie stahl, in seine Hände? - Herr Li steht stumm vor seinem Haus und denkt: So sieht ein Axtdieb aus! Und wirklich, in den nächsten Tagen gibt’s Seltsames von Lo zu sagen: Wo früh’r der Nachbar stehen blieb, huscht er vorbei jetzt wie ein Dieb! Sein Gang folgt stockender Bewegung, der Mund ist starr und ohne Regung, die Haut ganz welk, die Augen matt ... Warum? Weil Lo gestohlen hat! Er nahm die Axt, soviel ist sicher! Er ist ein Dieb, ein jämmerlicher, was sein Verhalten deutlich zeigt! Die Schandtat, die sein Mund verschweigt, ist äußerlich an seinem Wesen unübersehbar abzulesen! - Ein Zufall löst am Tag darauf ganz unverhofft die Sache auf: Herr Li hebt an der Schuppenseite für’s Küchenfeuer ein paar Scheite ... Da liegt die Axt, sie war nie fort, sie lag vielmehr seit Tagen dort und niemand hat sie weggenommen! - War Lo ihm seltsam vorgekommen, gar wie ein Dieb, der etwas stahl? Jetzt wirkt er wieder ihm normal: Er grüßt und winkt und geht wie immer! Sein Auge hat den alten Schimmer und sein Verhalten ist wie je. Woher kam Li nur die Idee, Lo könne fremde Äxte stehlen? - - - Ich denke jetzt, hier darf nicht fehlen, dass einer kurz noch etwas sagt: Wird nicht auch heute kaum gefragt, ob wohl der erste Eindruck richtig? Du glaubst und meinst ... und schon ist nichtig, was eigentlich du lange weißt. Der Kamerad und Freund dir heißt wird dir verdächtig in Sekunden! Vergessen tausend schöne Stunden, vor einem kurzen Augenblick. Ein kleines Wort wird oft der Strick an den wir Freund und Freundschaft hängen. Und wenn Gerüchte uns bedrängen, wir geben schnell und gerne nach! Liegt schließlich die Beziehung brach, weil nur Vermuten in Minuten zum Feind den Freund uns macht, den guten, dann ist der Weg zurück sehr weit und braucht Geduld und Jahre Zeit und manchmal währt’s ein ganzes Leben! - Zum Schluss lasst diesen Rat euch geben: Fragt selbst, den Ihr doch lang schon kennt, eh’ Ihr ihn einen Axtdieb nennt, ob Euer Dünken, Euer Meinen und ob die Dinge, die so scheinen, vielleicht nicht nur Vermutung sind. Ganz schnell hat einer taub und blind die Menschen, die nur Gutes wollen, verprellt und die vertrauensvollen Beziehungen sind angeknackst! - Schau nach, im Schuppen liegt die Axt! Manfred Günther * verreimt nach Lao Tse, gefunden in: Gelassenwerden. - Herder, 1996 Längs und quer zur Zeit - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 93