Es ist soweit! Aber es kam so plötzlich! Ich bin vom Thema selbst betroffen und doch, ich schreibe jetzt ganz offen, was ich erlebt in letzter Zeit und was das meint, „Es ist soweit!“. Es scheint bei mir seit zwei, drei Wochen ein neuer Zustand angebrochen. Ganz unvermittelt, über Nacht, viel früher, als ich je gedacht und gnadenlos, sehr hart und heftig und in der Wirkung ziemlich kräftig, erreichte mich das Ungemach ... Doch langsam und der Reihe nach: In Frankfurt war’s beim U-Bahn fahren. Ein Mütterchen von achtzig Jahren, bepackt mit Tüten, Taschen schwer, betritt, es war Berufsverkehr, den Zug und will sich gerne setzen. Sie schaut sich um. Auf allen Plätzen sitzt müd’ der Pendler große Schar und rührt sich nicht. So war es klar: Ich musste mich vom Platz erheben, um ihn dem Mütterchen zu geben. Das tat ich auch. Schon stand ich auf ... doch trat das Mütterchen darauf zurück und musterte mich lange, ergriff die Stehplatz-Haltestange und sah mich voller Mitleid an. Dann sprach sie: „Danke, guter Mann, ich glaube, wenn ich Sie so sehe, ist’s gut, Sie sitzen ... und ich stehe!“ - Der zweite Fall, der mich beschwert, lief ähnlich ab - nur umgekehrt: Ich war der U-Bahn zugestiegen. Im Stoßverkehr, ‘nen Platz zu kriegen, war ganz unmöglich, dachte ich. Kaum seh’n sie mich, erheben sich drei etwa siebzigjähr’ge Frauen. Ich fange an, mich umzuschauen, weil’s doch nicht sein kann, wie es scheint ... Die haben doch nicht mich gemeint!? Doch, haben sie! Schon sagt die eine und lacht dabei: „Für meine Beine ist mal zu stehen kein Problem. Sie machen es sich hier bequem, Sie können’s, wie Sie ausseh’n, brauchen!“ Am liebsten möcht’ ich untertauchen! Die Peinlichkeit! Die Leute schau’n! Dann führ’n die beiden andern Frau’n mich auf den Platz wie einen Kranken. Ich setze mich, doch kann nicht danken. Der Schock macht stumm, ich kann nicht schrei’n, ich hab’ genug und fühl’ mich klein! - Der dritte Fall der gleichen Sorte spielt an der Pforte der Aborte in Kloster Andechs, Bayernland: Die Eichentür, an der ich stand, war schwer mit Eisenband beschlagen. Da hör’ ich: „Geh den Opa fragen, ob er die Tür denn öffnen kann?“ Ich denke nicht im Traum daran, dass „Opa“ mir gegolten hätte (ich will nur eilig zur Toilette!), da baut ein Bub sich vor mir auf und sagt: „Ich helfe!“, greift den Knauf der Eichentür - schon ist sie offen! Mit „Opa“ war doch ich betroffen! - Auch wenn’s mein Kopf noch nicht begreift, ich bin zum Lebensherbst gereift, gedauert aber hat’s nur Tage. Was ist zu tun, heißt meine Frage, denn wirklich alt bin ich noch nicht: Mich plagt die Schwindsucht nicht noch Gicht. Mich quälen keine Hitzewellen, auch streiken nicht die grauen Zellen. Die Lunge macht es auch noch gut, das Herz bewegt gesundes Blut. Mein Appetit ist sehr erfreulich (und streikt nur dann, wenn so wie neulich im Obstsalat ein Würmchen schwimmt!) und auch die Fettverdauung stimmt. Mit einem Satz: Ich bin verglichen mit anderen beim Innerlichen in gutem Schuss und recht gesund. So liegt wohl äußerlich der Grund, mich schon als „Alten“ einzustufen! - Fühlt sich ein Leser jetzt berufen, mir Rat zu geben, was zu tun? Geht’s von den Socken aus, den Schuh’n? Erregt mein graues Haar Befremden? Sind’s meine Westen, meine Hemden, ist’s wohl mein Gang, ist’s die Gestalt, von der man sagt, sie wirke ‘alt’? Noch einmal also: Wer kann raten? Ich bin bereit zu allen Taten: Sei’s Brauen-Piercing und Tattoo*, selbst Lifting wäre kein Tabu! Hilft mir das Färben meiner Haare und wäre dann das einzig Wahre ein Zopf, ein Irokesenschnitt? Die Brille randlos oder ‘mit’? Kann Falten-Ex an meinen Händen den Zeitenlauf noch einmal wenden? Verheißt ein Wasser, ein Parfüm noch jugendliches Ungestüm? - Ihr Leser ratet (gern gedichtet!) an drei-fünf-drei-zwei-fünf gerichtet, Groß-Eichen heißt das Dorf und da Lohgasse elf - mit einem ‘A’. Manfred Günther * Tattoo - sprich: Tatuh! Längs und quer zur Zeit - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 92