Neandertalers Erbe Oder: Wie man die Gene aus der Urzeit erkennt? Es ist erst kürzlich ja gewesen, da konnte man es hören, lesen: Es hätten Menschen unsrer Zeit auch Gene der Vergangenheit. Denn einst vor dreißigtausend Jahren (man war nicht wählerisch beim Paaren, auch war das Licht in Höhlen trüb!), da hätte sich ein Menschentyp wohl mit dem anderen verbunden. So hat die Wissenschaft gefunden: Der Mensch, den als „modern“ man kennt, hat Gene - ein bis vier Prozent - vom Urmensch, dem „Neandertaler“. Der war behaarter, wir sind kahler. Er hatte eine flache Stirn, viel kleiner darum auch sein Hirn, entsprechend schlecht war sein Betragen. Doch um es deutlich jetzt zu sagen: War uns das nicht schon lange klar? Macht nicht der Alltag offenbar, dass Gene aus den alten Zeiten uns Menschen heute noch begleiten? Und wussten wir auch das nicht schon, was jetzt die Klassifikation des Anteils nach Prozent ergeben? Wir können’s täglich doch erleben an dem, wie Menschen nunmal sind, dass keiner dem so ganz entrinnt, was seine Gene ihm befehlen! Das Erbe ist nicht zu verhehlen! Bei einem Menschen wirkt es mehr, bei einem andern nicht so sehr, doch sicht- und fühlbar bei den meisten. Ich will mich keinesfalls erdreisten, zu tun, als ob ich kundig wär’! Und doch, man merkt es ungefähr bei unsern lieben Zeitgenossen, was da ins Erbgut eingeflossen und wie viel, wenn man sauber trennt, von Urmenschgenen (in Prozent von eins bis vier) sie wohl noch haben. - So zählt es zu den Urmenschgaben, wenn einer, der uns kommen sieht, den Mund zum Boden hin verzieht, um, ohne uns zu estimieren, an uns vorbei zu defilieren* (obgleich man wohnt im selben Ort!), ganz ohne Gruß und ohne Wort. Wie’s kommt? Da hab’ ich keinen Zweifel: Sprang einst der Urmensch durch die Eifel, den Vogelsberg, den Odenwald, dann traf er auf den Sachverhalt der sehr geringen Menschendichte. Viel später erst in der Geschichte gab’s dann Bevölkerung zuhauf und dadurch kam das Grüßen auf. So zeigt „Nicht-Grüßen“ die extremen Verhaltensweisen im Benehmen des Menschen aus Neandertal. Noch aber ist das minimal und will man’s in Prozent erheben vielleicht mit einem anzugeben. - Doch sind wohl der Prozente zwei aus jener alten Zeit dabei, wenn solche Muffel Auto fahren und sich dabei das Blinken sparen! (Denn zweifellos war bei der Jagd des Urmenschs Blinken nicht gefragt!) - Mit „Vorfahrt nehmen“ geht’s jetzt weiter hinauf die Gene-Anteils-Leiter, wobei man drei Prozent erklimmt! Wer anderen die Vorfahrt nimmt, beweist den alten Hang zur Keule! Macht solch ein Mensch dir eine Beule und drückt dein Blech dir seitlich ein, dann wird’s für ihn gewesen sein, als hätte er ein Reh erschlagen, auch das kommt aus den frühen Tagen! - Nun sind die Leser recht gespannt: Wie werden vier Prozent erkannt? Hier geht’s, man möge mir verzeihen, um etwas Ekliges: das Speien und das, was unsre Nase füllt bevor - meist taschentuchverhüllt - der Naseninhalt ausgestoßen. Der Urmensch nahm dazu die bloßen, nicht tuchbewehrten Finger meist. War’n Nasen winters stark vereist, genügte schon ein Nasenstüber. Doch geh’n wir noch zum Spucken über: Das seh’n wir rings um diese Welt auf Tennisplatz und Fußballfeld, wenn Sportler wie ein Lama speuzen**. Dies und das unbetuchte Schneuzen sind klar Neandertal-Manier und der Prozente Nummer vier! - Mir bleibt für heut’ noch eins zu sagen: Es reicht nicht aus, jetzt nur zu klagen, wie schwer des Urmenschs Erbe drückt! Beim Essen ist’s doch auch geglückt, nicht laut zu schlürfen und zu schmatzen und nicht zu schlabbern wie die Katzen. Das zeigt doch, dass man lernen kann! Warum soll’s also Frau und Mann beim Grüßen und den andern Dingen aus Urmenschzeiten nicht gelingen, mit Willen und mit Disziplin dem Zwang der Gene zu entflieh’n? Manfred Günther * vorbei defilieren = vorbei ziehen, vorbei marschieren ** speuzen = spucken Längs und quer zur Zeit - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 90