Zwei alte Freunde Hin und wieder ein Blick in den Spiegel! Hier ist zunächst die Vorgeschichte: Die zwei, von denen ich berichte (sie heißen Waldemar und Frank*), die saßen in der selben Bank schon damals in den Grundschuljahren. Auch als sie Gymnasiasten waren, verbrachten sie die freie Zeit an Nachmittagen gern zu zweit: Sie lernten, klönten, spielten Spiele und sprachen über Lebensziele, privat, beruflich, familiär ... Sie waren dreizehn ungefähr, als ihre Wege sich verzweigten: Des einen Interessen neigten sich mehr den neuen Sprachen zu. Der andre stand auf Du und Du mit Mathe und eh’r trock’nen Stoffen. Schnell war jetzt beider Wahl getroffen: Die Kinderjahre war’n vorbei, aus einer Richtung wurden zwei, man sah sich weniger, dann selten und lebte bald in eig’nen Welten, bis endlich man sich aus dem Ohr und aus den Augen ganz verlor: Der eine Freund verzog nach Bremen*, der andere nach Ober-Semen*, ein kleiner hübscher Ort am Rand des Vogelsbergs im Hessenland. - - - Rund fünfzig Jahre sind vergangen. Der Ruhestand hat angefangen für Frank wie auch für Waldemar. Wo früh’r das Leben hektisch war, ist jetzt auch Zeit, sich zu besinnen und für den tiefen Blick nach innen, wobei, was gut war und von Wert neu ins Gedächtnis wiederkehrt, nebst Menschen, die man einmal kannte. Und wo man diese „Freunde“ nannte, da werden auch die Fragen groß: „Was macht wohl die, was jener bloß?“ Und: „Könnte ich den wohl noch leiden?“ Genau so ging es bei den beiden. Es war dann Frank, der sich besann, wie leicht man recherchieren kann: Im Internet gibt man die Namen, gesuchter Herren und auch Damen und noch vielleicht die Schule ein ... Die Zahl der Waldemars war klein, der richtige war schnell gefunden. So gingen dann nach ein, zwei Stunden die ersten E-Mails hin und her. Ein Bildertausch war auch nicht schwer, man wählte eins im Weihnachtszimmer: Familie „Frank“ bei Kerzenschimmer, die „Waldemars“ im milden Licht des Christbaums, Freude im Gesicht ... - So weit, so gut. Wie ging es weiter? Es wurde rätselhaft und heiter ... die Bilder schienen ohne Sinn! Doch schau’n wir jetzt genauer hin: Was Frank von Waldemar erhalten, es zeigte einen grauen Alten, inmitten einer Kinderschar. Es handelte sich offenbar um jenes Mannes Ururenkel. Dort auf des Alten Oberschenkel saß milde lächelnd eine Frau. Ihr jugendlicher Körperbau, die stramme Haut, die blonden Haare ... sie war bestimmt erst dreißig Jahre und dem Uralten wohl bekannt. War sie dem Tattergreis verwandt, als Enkelin, vielleicht als Nichte? Ganz hinten stand die Weihnachtsfichte; man konnt’ es wenden oder dreh’n, ein zweiter Mann war nicht zu seh’n: wo nur war Waldemar geblieben? - Hier wird nun weiter das beschrieben, was ganz so wie bei Frank (beinah!) im Hause Waldemars geschah: Er saß mit seiner Frau beisammen, der „blonden“, mit der Haut, der „strammen“ und der so „jungen“ Traumfigur (sie ist ja auch erst sechzig nur, zwei Jährchen jünger als ihr Gatte!). Die Gäste, die man christtags hatte und heute nicht zugegen sind, war’n weder „Ur-“ noch „Enkelkind“, des so genannten „grauen Alten“, als die nach Augenschein sie galten, vielmehr die Kinder Waldemars. - Grad sind die Blicke jetzt, des Paars aufs Weihnachtsbild von Frank gerichtet: Dort sind Personen abgelichtet, die Waldemar zum Teil erkennt: Der Vater Franks, recht korpulent und seine Mutter, eine Dame, die wirkt, als mache sie Reklame für einen Anti-Aging-Brei**. Fit wie ein Turnschuh sind die zwei, genau wie damals in den Jahren als Frank und er noch Kinder waren - und scheinbar immer noch gesund! Die Frauen dort im Hintergrund hat Waldemar noch nie gesehen. Links sieht man noch ein Männchen stehen, so bleich wie Kabeljau-Filet mit schütt’rem Bart so weiß wie Schnee, das Haupthaar wie aus Kreidepuder. Ist das des Vaters ält’rer Bruder? Ein Onkel aus Amerika? Nur eins steht fest: Frank ist nicht da! - Nun ist der Leser ohne Frage, schon längst auch hier der Herr der Lage und hat das „Männchen“ lang erkannt und fraglos schon mal „Frank“ genannt, wodurch auch hier sich Rätsel klären und wir am Schluss der Dichtung wären - wobei hier gut ein Satz noch passt, der dies Gedicht zusammenfasst: Die Zeit verführt, gut hinzuschauen, wenn andre altern und ergrauen, doch macht sie alte Knacker blind, dass auch sie selbst schon Knacker sind! Manfred Günther * Eigennamen und Ortsnamen sind frei erfunden ** Anti-Aging-Brei - Man kann hier auch einsetzen: Altershemmungs-Brei Längs und quer zur Zeit - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 86