Das Gruppenbild* - Teil 1 oder: wie man 140 Mann auf ein Foto bekommt Die Oma feiert: Neunzig Jahre! Sie geht am Stock, hat weiße Haare, Arthrose in der rechten Hand, doch messerscharf ist ihr Verstand. So gibt’s, auch wenn die Beine wanken, doch viel zu feiern und zu danken und das hat Oma heute vor! Den Mann Karl-Wendelin verlor sie lang schon an ein Lungenleiden. Doch gibt’s zwei Töchter und von beiden manch längst erwachs’nes Enkelkind, die alle schon verpartnert sind und ihrerseits auch Kinder haben. So zählt zu des Geburtstags Gaben ein Kinder, Ur- und Enkelglück von insgesamt rund dreißig Stück und Oma kennt sie all mit Namen! Weil viele ja mit Partnern kamen und weil man doch ein solches Fest nicht ungenutzt verstreichen lässt, sind jetzt mit Vettern und Cousinen, sogar zwei Tanten sind erschienen, dazu noch bis ins vierte Glied, die aus dem deutschen Ostgebiet und die aus Oberschlesien stammen, im „Goldnen Schwan“ zum Fest beisammen - so um die hundertvierzig Mann! Grad ist das Kaffeetrinken dran und Oma greift ihr Stöckchen eben und schickt sich an, sich zu erheben, damit ein jeder Gast erfährt, wie lang die Kaffeepause währt und dass es dann in zehn Minuten (man solle sich doch bitte sputen!), für alle Gäste, wenn’s beliebt, ein Treffen für ein Foto gibt, denn solch ein Bild ist ohne Frage, ein klares Muss an diesem Tage! Der Fotograf sei schon bereit, in zehn Minuten sei’s soweit. - Wir wechseln also jetzt nach draußen: Dort hat schon an der Hauswand außen, Herr Schmidt vom Studio „Schmidt und Dauth“ die große Bühne aufgebaut. Sie reicht in ihrer Grundstellage schon in der untersten Etage für etwa sechzig Leute aus. Doch heute ragt sie hoch hinaus weit übers Dach bis Stockwerk sieben! Doch scheint das gar nicht übertrieben, denn Omas Gästeschar ist groß! Jedoch: Wo bleiben sie denn bloß? Längst ist es Zeit, das Bild zu machen! Da kommt zuerst mit einem Lachen die Oma aus dem Goldnen Schwan. Minuten später (simultan) erscheinen auch die alten Tanten als älteste der Anverwandten und klettern auf den ersten Stock der Bühne, bilden einen Block jetzt mit der Oma, die schaut grämlich. Gut neun Minuten ist man nämlich in Sachen Foto im Verzug! Da hält es Oma jetzt für klug noch einmal streng zu mahnen - drinnen. So also geht sie jetzt nach innen und ruft: „Der Fotograf, Herr Schmidt, erwartet uns, kommt alle mit!“ Schon sieht man Oma wieder drehen und rasch in Richtung Ausgang gehen. Und wirklich: zwei, dann drei, dann vier der lieben Gäste folgen ihr. Die anderen sind unterdessen beschäftigt noch mit Kuchen essen, ja, mancher macht den Saal entlang jetzt zum Buffet den dritten Gang, da dauert’s wohl noch eine Weile. Inzwischen draußen klimmt in Eile die Oma auf den Bühnenplatz. Nach einem letzten kleinen Satz steht sie an ihrer Stelle wieder. Dann schaut sie auf, dann schaut sie nieder ... sie ist gewiss am rechten Fleck, jedoch die Tanten, die sind weg! Dafür steh’n wie die Zinnsoldaten zwei Enkel da mit ihren Paten und das ergibt, na immerhin!, im Resultat: zwei Mann Gewinn und das in einer Viertelstunde! Jetzt sagt Herr Schmidt, oh frohe Kunde, die Tanten wären auf dem Klo. Der Sekt, das Bier, Kaffee und so ... es dau’re sicher nur Sekunden, dann sei das Damenklo gefunden! So fragt sich unsre Oma nun: Was ist als nächster Schritt zu tun, dass sie die wesentlichen Reste, der um die hundertvierzig Gäste, nach draußen auf die Bühne bringt. - Ob das der Oma wohl gelingt, erfahrt ihr hier in sieben Tagen! Lasst mich für heut’ noch dieses fragen: Wie lange währt denn wohl die Frist, bis alles auf der Bühne ist? Wie lange, bis sie nicht mehr kauen und wirklich stracks nach vorne schauen? - Nur das dazu schon hier und jetzt: Es gibt ein Gruppenbild ........ zuletzt. Manfred Günther * Das Gedicht fasst zahlreiche selbst gemachte Erfahrungen zusammen. Fortsetzung folgt! Längs und quer zur Zeit - Gedichte für Alsfelder Allgemeine 65