Aufklärung heute oder: Was ist Bestäubung? Als wir vor um die fünfzig Jahren noch Kinder in der Schule waren, lief manches anders, das ist klar. Respekt vor Lehrern etwa war bei allen Schülern noch vorhanden. Und hat man etwas nicht verstanden aus irgend eines Lehrers Mund, dann suchte man dafür den Grund nicht immer nur beim Pädagogen: Er wäre einem nicht gewogen! Es wäre schlecht, wie er erklärt und bei dem Tempo, das er fährt, da bliebe nicht nur eine Schnecke, auch Fuchs und Wiesel auf der Strecke! Nein, manches sah man wohl auch ein: Der eigne Einsatz war zu klein. Null Antrieb, sich mal anzustrengen und statt nach Lernen sich zu drängen, da nahm ab Mittag man sich frei, las „Unter Geiern“ von Karl May, denn „Potter“ war noch nicht erfunden. - Recht int’ressant war’n stets die Stunden, in denen man von dem erfuhr, was damals noch Erwachs’ne nur den Nabel abwärts gern betrieben. (Vorausgesetzt war, sich zu lieben, sich treu zu sein und fest liiert!) - Wie hat uns das doch amüsiert, wenn unsre Bio-Ref’rendarin, (wir nannten sie das „Fräulein Karin“) das damals tiefe Schweigen brach, mit rotem Kopf von Dingen sprach, von denen sie noch selbst nichts wusste. Sie tat’s auch nur, weil sie es musste: der Bio-Lehrplan sah es vor! So fand der „Sex“ in unser Ohr: Wir hörten, was die Bienen machten, wenn sie den Blüten Pollen brachten und wie dann neue Frucht entstand ... Dann freilich waren wir gespannt: Wie wird es Karin wohl gelingen, ins Menschliche nun vorzudringen? Doch wurden wir nicht richtig satt, denn Übertragung fand nicht statt, sehr vage blieb, was Karin lehrte. Das Leben später erst vermehrte das „Wissen“ aus der Kinderzeit. Und war man selber dann soweit, der Liebe Praxis zu beschreiten, dann ließ man von ihr selbst sich leiten und siehe da, man kam zurecht! Hier wenig wissen, war nicht schlecht, weil Dinge tiefer uns erfüllen, die, erst wenn’s Zeit ist, sich enthüllen! - Wir machen einen großen Sprung: Wir selber sind nun nicht mehr jung und auch die Welt ist nicht die gleiche: Kein Fernsehfilm mehr ohne Leiche, ja manchmal sind es drei bis vier. Noch längst vor acht, so scheint es mir, führt jedes Drehbuch auch durch Betten. So also ist, da möcht’ ich wetten, ein Kind heut’ lang schon aufgeklärt, wenn’s in der Schule erst erfährt, vom Hintergrund des Sexuellen. - Wir geh’n, dies Thema zu erhellen, jetzt ins Gymnasium, Klasse „Sechs“. Frau Orth behandelt den Komplex: „Die Grundstruktur der Pflanzenkunde“ in einer Bio-Doppelstunde. Gerade eben fragt Frau Orth: „Wie pflanzt sich denn die Pflanze fort, denkt an Bestäubung, Pollen, Bienen?“ Kein Schüler kann mit Antwort dienen. Im Klassenraum bleibt’s länger stumm. Dann dreht Frau Orth die Frage um: „Bevor wir nach den Pflanzen schauen ... wie geht’s bei Männern und bei Frauen?“ Jetzt kommt Bewegung in den Saal: „Ich weiß es!“ - „Lasst doch mich einmal!“ „Im Ersten, gestern, Neunzehn-dreißig, war’n zweie beim „Bestäuben“ fleißig! Man sah genau, wie das so geht!“ - Wir seh’n, gar manches ist verdreht und längst nicht mehr, wie wir es kannten. Was wir noch ein Geheimnis nannten, ist heut’ schon Kindern offenbar. Doch frag’ ich: Ist es, wie es war, denn wirklich gar so schlecht gewesen? Lernt bald der Säugling schon das Lesen und spricht das Kleinkind nebenbei schon Englisch mit gerade drei? Doch ums in sexuellen Dingen hier noch mal auf den Punkt zu bringen: Das frühe Wissen, wie man’s tut, ist wenig hilfreich und nicht gut! Wer vorschnell schon den Zauber löste und ein Geheimnis grob entblößte, der ist, noch ehe er’s gedacht, um wirklich tiefes Glück gebracht. Und umgekehrt: Wird nicht die Liebe, auch wenn die Kenntnis dürftig bliebe, mich lehren, was ich wissen muss. (Ein Kuss zum Beispiel wird zum Kuss, nicht weil ich technisch ihn durchdringe.) Der Liebe wunderbare Dinge, sie brauchen die Erklärung nicht und scheuen helles, grelles Licht! Manfred Günther Längs und quer zur Zeit - Gedichte für Alsfelder Allgemeine 54