Im Wartezimmer Werner Kunze fühlt sich kränklich. In den Ohren summt’s bedenklich, seine Nase trieft und läuft, darum muss er sie gehäuft mit dem Taschentüchlein tupfen. Kurz gesagt: Er hat wohl Schnupfen, schnäuzt sich, prustet, hustet, niest ... Weshalb Werner jetzt beschließt, einen Arzttermin zu buchen, um den Doktor aufzusuchen, was er telefonisch macht. Anderntags schon kurz vor Acht hockt er dann im Wartezimmer des Herrn Doktor Wilfried Wimmer, wo - der Arzt ist rings im Land als patent und gut bekannt - an die Vierzig Leute sitzen. Werner S. gerät ins Schwitzen, volle Räume mag er nicht! Eine Frau mit Schwergewicht ist gerade am Erzählen: „Wimmer meint, ich müsste wählen, Platzen oder Fettverbot! Meine Pumpe ist bedroht! Viel Bewegung statt zu essen! Heute bin ich hier zum Messen. Hundert Kilo sind zu viel! Minus Vierzig wär’ mein Ziel!“ Darauf tönt ihr Gegenüber: „Meine Aussicht ist noch trüber, denn mich plagt ein Gallenstein, überdies ein off’nes Bein und am Herz, es ist ein Jammer, flimmert noch die rechte Kammer!“ An der Tür die alte Frau klagt: „Mein ganzer Unterbau taugt nichts mehr schon ab dem Rücken, manchmal geht es nur mit Krücken, mich zu bücken ist mir Qual! Jeder Tag ein Jammertal, das ich schmerzgebeugt durchschreite!“ Drüben auf der andern Seite meldet sich ein Mann zu Wort: „Ei, da tausch’ ich doch sofort! Du nimmst meine Prostatitis*, die mich plagt und die Colitis**, die seit Jahren ich ertrug! Mir gibst du im Gegenzug deine läppischen Beschwerden! Nichts kann nämlich hier auf Erden schlimmer sein, als meine Pein! Alle Schmerzen werden klein, gegen dieses grauenvolle Müssen ohne Selbstkontrolle!“ Jetzt spricht ein noch junger Mann, dass er da nur lachen kann! Seine Milz sei angerissen, seine Leber längst verschlissen, keine Niere funktioniert, Darm und Magen perforiert, was sich zeigt in starken Winden! Insgesamt sei sein Befinden darum auch aus gutem Grund grottenschlecht und auf dem Hund! - Wie geht’s Werner K. inzwischen? Kaum noch muss er Nase wischen! Auch im Ohr das Summen schweigt, eine Sache, die uns zeigt: Heilsam ist schon das Vergleichen! Noch Halbtote unter Leichen nehmen sich nicht übel aus! Tobt die Pest im Nachbarhaus, ist ein Schnupfen nichts dagegen! Ein Wehwehchen wird zum Segen, wenn du echtes Leiden siehst! Was dir sonst den Tag vermiest wird auf einmal leicht wie Watte! Wer noch eben Klagen hatte, fühlt sich beim Vergleichen fast wohl mit seiner kleinen Last! - Doch zurück zu unserm „Kranken“: Der sitzt da ganz in Gedanken, vom Gehörten stark bewegt, grübelt, prüft sich, überlegt ... und erhebt sich, zu enteilen! Wer wird länger hier verweilen, wenn ihn nur ein Schnupfen plagt? - Wer nun nach der Lehre fragt, die mein Dichten heut’ enthalten, gehe dieser Verse Spalten langsam noch einmal retour - dreiundzwanzig Zeilen nur! Manfred Günther * Prostatitis = Entzündung der Vorsteherdrüse ** Colitis = chronisch entzündliche Darmerkrankung Längs und quer zur Zeit - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 36