Das Gewissen Fünf Thesen, seine Echtheit zu erkennen Man hört es grad in diesen Tagen: Nachdem sie ihr Gewissen fragen, sind Menschen überraschend oft und manchmal ziemlich unverhofft und plötzlich völlig andrer Meinung! Es scheint wie eine Zeiterscheinung, dass einer, den du Freund genannt, so tut, als wärst du unbekannt, von einer auf die andre Stunde. Wer eben führt ein „Ja“ im Munde, wird vom Genossen schnell zum Schwein, bricht sein Versprechen und sagt „Nein“! und fällt dir schändlich in den Rücken. Du hast gedacht, es wird dir glücken, da springen die Vertrauten ab. Und fragst du nach, dann heißt es knapp: Man sei zwar innerlich zerrissen, doch wär’ gebunden im „Gewissen“! Ein Hinweis, der meist riesig misst und leider unangreifbar ist. Denn einen hier der Lüge zeihen, bedeutet etwas zu entweihen, was keiner ungestraft berührt! Wird das Gewissen angeführt, dann enden alle Diskussionen, denn wir betreten solche Zonen, in denen das Tabu regiert, das jegliche Vernunft negiert, vielmehr zum Heiligtum gesteigert, sich ihrem Zugriff strikt verweigert. - Soweit das Vorwort. Mein Gedicht erhellt in Thesen meine Sicht zu dem, was wir „Gewissen“ nennen und auch, woran wir klar erkennen, ob die Gewissensgründe echt, beziehungsweise falsch und schlecht und eigentlich nur vorgeschoben zum Zweck, dass uns die Leute loben. - Hier ist die erste These schon: Gewissen scheut das Mikrophon! Wer will, wenn inn’re Nöte quälen, davon denn öffentlich erzählen? Wer wirklich leidet, bleibt zu Haus und macht es mit sich selber aus und sucht erst dann das Ohr der Menge, wenn sie verging: die inn’re Enge und Herz und Seele wieder frei. - Hier kommt die These Nummer Zwei: Gewissen kann sich niemals sputen! Ein Meinungswechsel in Minuten, der aufs Gewissen sich beruft, ist leicht als Fälschung eingestuft: Gewissensgründe müssen wachsen! Sie kommen nicht aus einer laxen Gesinnung, Meinung oder so ... Auch macht Gewissen selten froh!, was schon die dritte meiner Thesen. Wann gab es je davon zu lesen: „Nachdem er sein Gewissen fand, hat einer erst das Glück erkannt?“ Im Gegenteil: Es ist uns Bürde auf unsrer Schulter, eine Hürde, die keiner leichthin übersteigt. - Die vierte meiner Thesen zeigt, Gewissen lässt sich niemals kaufen! Die allergrößten Euro-Haufen, sie dünken uns als Fuhre Mist, wenn unsre Seele lauter ist und vom Gewissen her im Reinen! Auch Posten, Ämter wird verneinen, wer seines Innern Stimme hört. Wen materieller Lohn betört, wem Seelenkämpfe Vorteil bringen, hurt mit der Welt und ihren Dingen. Auch hat, wer nur auf Geltung zielt Gewissensachtung rasch verspielt. - Die fünfte These noch am Ende: Wie’s einer dreht und wie er’s wende, Gewissen ist ein hohes Gut! (So mancher zahlte schon mit Blut!) Auch zählt es zu des Schöpfers Gaben, die Menschen in der Seele haben. Zwar ist es selten angenehm und lästig auch und unbequem, doch wichtig, dass wir menschlich bleiben. Die mit Gewissen Arges treiben, und mit ihm tun, was ihnen nützt sind von Gesetzen zwar geschützt, doch der Erfolg ist nicht von Dauer. Dahinter steht der Ethik Mauer, an der, da darf man sicher sein, rennt jeder einst den Kopf sich ein.* Manfred Günther * Früher oder später - aber gewiss! Längs und quer zur Zeit - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 28