Nouvelle Cuisine* Zwei Wörter auf Französisch weisen nach ihrem Sinn in Richtung „Speisen“, wobei, wenn man’s genauer nimmt, die Sache eigentlich nicht stimmt: Denn speisen, so im Sinn von „essen“, kann jedermann getrost vergessen noch lange vor dem ersten Schritt, mit dem er ein Lokal betritt, das sich verschrieb der „neuen Küche“! Zwar hängen in der Luft Gerüche, auch setzt man sich an einen Tisch, zwar gibt’s Servietten blütenfrisch und Ober, die mit Tellern gehen. Nur ist darauf nicht viel zu sehen, nichts jedenfalls für einen Mann, der hungrig ist und spachteln kann und vorhat, sich den leeren Magen, um satt zu werden, vollzuschlagen. Ein solcher Mann wird hier nicht froh, denn Sättigung ist anderswo. - Doch wird jetzt mein Gedicht konkreter: Wir denken uns, dass ein Vertreter der Gattung „Mann mit Appetit“ gerade das Lokal betritt, in dem, so stand es in der Zeitung, sich gut allein, auch in Begleitung und als Gesellschaft speisen lässt. Der Mann plant für sein Wiegenfest hier erstmal einen Test zu starten. Schon bringt man Wein- und Speisekarten. Den Mann - er heißt Heinz-Otto Rock** - trifft jetzt ein erster kalter Schock: Die Preise nämlich sind gewaltig! Ein Kot’lett (mehrwertsteuerhaltig) für einen Fünfzig-Euro-Schein! Für Zwölf gibt’s „schon“ ein Gläschen Wein und will man ein Menü versuchen, sind Hundertzwanzig abzubuchen! Was soll’s? Nun ist er schon mal hier, Heinz-Otto nimmt die Nummer „Vier“: Menü mit Suppe, Gänseleber, Gemüse, Steak vom Wildschweineber, dazu Kroketten, Butterreis und dann als Nachtisch Erdbeereis. Der Ober fragt, man kann sich’s denken, Heinz-Otto noch nach den Getränken. Worauf - was sichtlich nicht gefällt - der Gast ein „Mineral“ bestellt (mit Sieben Euro Fünfzig Kosten, ein immer noch recht stolzer Posten!). Dann heißt es warten, nicht gemurrt, auch wenn Heinz-Ottos Magen knurrt und ihm das Wasser läuft im Munde! Die Suppe kommt nach einer Stunde als seines Essens erster Streich! Das Tässchen (aus dem Puppenreich?) enthält ein kleines gelbes Pfützchen. Als Krönung schwimmt ein Sahnemützchen halb erbsengroß mit Schnittlauch drauf präzise mittig obenauf ... Rock schlürft es aus in zwei Sekunden! Nach weiteren drei Viertelstunden erscheint mit einem Mineral der Ober jetzt zum zweiten Mal. Doch dann beginnt man sich zu sputen: Im Lauf von drei mal zehn Minuten geht’s dem Menü nun Gang um Gang schnell wie ein Bummelzug entlang: Die Leber groß wie Nadelköpfe, drei Röschen Brokkoli wie Knöpfe, das Ebersteak ist gut versteckt, weil’s eine Scheibe Gurke deckt, zehn Körnchen Reis und zwei Kroketten ... Rock bangt hier kaum, er könnt’ verfetten, denn rasch ist alles abgetan: Ein Essen für den hohlen Zahn! (Doch muss man zwischendurch vermerken: Die „Neue Küche“ hat auch Stärken! Die Dinge werden schön serviert, noch Kleinigkeiten hübsch drapiert und durchaus künstlerisch geboten: Die Schnittlauchhalme haben Knoten und dort, wo keine Speise sitzt, sind Teller braun und grün bespritzt, so wie die Zeichen der Chinesen. Doch andrerseits: Wer kann die lesen und worin liegt ihr tiefer Sinn? Wär’s nicht von größerem Gewinn, man böte uns statt Schein und Hüllen auch Nahrung an, den Bauch zu füllen?) Doch zu Heinz-Otto nun zurück, denn eben naht als Abschlussstück und letzter Streich mit kleinem Fächer verziert ein Erdbeer-(Eier)becher, als dieses „Essens“ guter Schluss. Die Kügelchen sind ein Genuss (doch schwierig wär’s für einen Blinden, sie mit dem Löffel gleich zu finden!). Dann endlich ist das Essen aus. Rock zahlt und geht zur Tür hinaus und weiß, es wird in diesem Leben nie wieder „Neue Küche“ geben. Auch weiß er, dass sein Wiegenfest er anderswo gestalten lässt und wär’s in einer Bahnhofshalle! Dort nämlich wird in jedem Falle ein Gast, was seine Reize hat, viel schneller und auch richtig satt! - Wir sind für heut’ zum Schluss gediehen, drum will ich noch ein Fazit ziehen: „Nouvelle Cuisine“ ist Dreistigkeit! Für Nonnen in der Fastenzeit, als Grabbeigaben auch für Leichen mag die gebot’ne Menge reichen, doch aus Heinz-Ottos klarer Sicht (und aus der meinen!) sicher nicht! Manfred Günther * Nouvelle Cuisine (sprich: Nuwell Kwisin) = „Neue Küche“ ** Der Name steht für viele bei N.C. hungrig gebliebene Menschen Längs und quer zur Zeit - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 16