Vergesslichkeit Wie oft wohl ist das schon geschehen, dass Menschen vor dem Kühlschrank stehen: Er ist geöffnet und man starrt hinein ins Kühle, sinnt und harrt und sucht die Antwort beim Besinnen: Was nur, was wollten wir hier drinnen? Ging’s um den Käse, um die Wurst, vielleicht um Wasser für den Durst? Sucht man den Rest vom Katzenfutter, für’s Brot ein kleines Stückchen Butter? Man steht sich Beine in den Bauch und steht dabei auch auf dem Schlauch, denn das Gedächtnis kehrt nicht wieder. So schließt man kurz die Augenlider und startet geistig einen Gang an der Erinnerung entlang, von dem, was eben grad wir taten, bevor wir an den Kühlschrank traten ... Doch Fehlanzeige ist auch das: Wir ahnen’s nur und das noch blass, zwar war’s wohl erst vor zehn Sekunden, doch ist und bleibt es uns entschwunden und unser Kopf wirkt hohl und leer. Sich selbst zu quälen lohnt nicht mehr: So geht’s mit einigem Verdrießen daran, des Kühlschranks Tür zu schließen ... und eben fällt sie wieder zu ... da blitzt - und das ist meist der Clou! - es auf im Kopf wie tausend Birnen und hinter Stirnen in den Hirnen erscheint ganz klar des Suchens Grund: Es war die Leine für den Hund, vielleicht der Besen für die Gasse, für den Kaffee die Sammeltasse, das Leukoplast für’s Raucherbein, der ausgefüllte Lottoschein, das Mittel gegen Küchenschaben ... nach denen wir gefahndet haben und (wussten wir’s denn nicht sofort!?) der Kühlschrank war der falsche Ort, denn dort - jetzt wird es uns auch peinlich! - gibt’s nichts von alledem (wahrscheinlich!) ... Weil sachlich schon ein Leukoplast wohl kaum in einen Kühlschrank passt und Hundeleine, Straßenbesen sind stets im Besenschrank gewesen! So also nehmen wir uns vor: Wenn sich demnächst der Grund verlor, warum wir in den Kühlschrank blicken, im Kopf die Dinge durchzuklicken: War’s Lottoschein, war’s Schaben-Ex, die Leine für den Dackel Rex ...? Jedoch, man darf sich drauf verlassen: Es wird beim nächsten Mal nichts passen, dann nämlich suchst du, ach herrje!, im Kühlschrank nach dem ... Port’monnaie! - Soweit der Sache üble Seite, doch gibt’s die andere, die zweite, die kommt bei uns nicht übel an, weil man mal richtig lachen kann - zumal wenn andere betroffen! (In jedem Falle will ich hoffen, dass keiner den Humor vergisst, wenn erst er selbst betroffen ist!) - Wir gehen also, es wird heiter, mit einem echten Beispiel weiter: Es spielt in einer kleinen Stadt*, die einen Bürgermeister hat, von dem man weiß in Oberhessen, er neige (erblich?) zum Vergessen und oft schon gab’s in seiner Zeit so manchen Grund zur Heiterkeit, zum Beispiel, wenn er amtlich handelt und unbebrillt zur Trauung wandelt, um dort den Fotografen laut so anzusprechen: „Liebe Braut!“ Doch auch bei manchen Hausbesuchen war Heiteres schon zu verbuchen: Wenn unser Bürgermeister dort vom letzten Trauerfall das Wort für den „Verblichenen“ verlesen. (So ist’s zwei-, dreimal schon gewesen!) - Doch kommt nun noch zum guten Schluss, ein Fall, den ich erzählen muss, bevor sich heut’ die Verse neigen (man kann ihn einfach nicht verschweigen!), des Bürgermeisters größte Tat! - Da tagt des Orts Gemeinderat, die Münder gähnen, Köpfe rauchen, die hohen Herrn und Damen tauchen in der Gemeinde Haushaltsplan. Fast wäre ja das Werk getan, nur übrig blieb der letzte Posten: Des Hallenbades fixe Kosten und die weiß - grad war Inventur - Gemeinderätin Meier nur, doch fehlt sie heute wegen Grippe. Des Bürgermeisters Oberlippe zuckt länger ziemlich hektisch schon ... dann hat er’s! Mit sonorem Ton gibt er jetzt kund den Amtsgenossen, wie fortzufahren er beschlossen: „Frau Meier ist ja wohl zu Haus! Ich hole nun mein Handy raus, um jetzt sofort sie anzufragen, die fixen Kosten uns zu sagen.“ Dann schaut er sichtlich stolz sich um. Die Damen, Herren sitzen stumm, man sieht, sie sind perplex und staunen. Doch schon erhebt sich leises Raunen: „Der Bürgermeister, ein Genie! Der sprüht ja vor Ideen ... und wie!“ Den so Gelobten sieht man strahlen (im Kopf hat er die nächsten Wahlen!), dann greift er mit der rechten Hand nach dort, wo sich die Tasche spannt und wo er als Gemeindelenker und starker Vor- und Weiter-Denker sein Handy anzutreffen meint ... Er zieht’s heraus und schon erscheint vor aller aufgeriss’nen Augen, und Blicken, die sich fest dran saugen, die Fernbedienung vom TV! (Da wird zu Hause sein Frau beim Fernseh’n auch Bewegung kriegen!) - Bevor wir uns vor Lachen biegen, sei eines ganz am Schluss bemerkt: Auch wer vergesslich ist, der stärkt der Menschen positive Werte: Humor ist eine hochbegehrte und heute selt’ne Eigenschaft! Auch fördert er die Muskelkraft der Lippen, Wangen und der Lungen und macht uns frei, wo wir gezwungen und das tut gut in dieser Zeit. - Drum: Vivat, der Vergesslichkeit! Manfred Günther * Den Ort habe ich vergessen - keinesfalls aber war es mein Heimatort Mücke, der ist auch keine Stadt, sondern eine Großgemeinde! Längs und quer zur Zeit - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 12