Mehr Sein als Scheinen ... (... aber oft ist es umgekehrt!) Für alle, die hier häufig lesen: Es ist im letzten Jahr gewesen, da schrieb ich hier von meinem Hahn und seinen Mängeln als Galan, der nicht vollbrachte bei den Hennen, was Hühnerzüchter „Treten“ nennen. Nun, kurz und gut: Der Hahn ist tot. Er starb im frühen Morgenrot an einem Sonntag im Dezember, ganz kurz nachdem ich im November mit einer Aufbau-Kur begann (nein, nicht bei mir, beim Hühnermann!), und das mit zarten fünfzehn Jahren! - Jetzt aber sollt ihr hier erfahren, was zwischenzeitlich vor sich ging. (Mir scheint’s ein rechtes Wunderding, doch dürft ihr meinem Dichten trauen!) Des Hahns zurückgelass’ne Frauen, da könnt ihr wirklich sicher sein!, sind unbemannt und ganz allein in ihrem Stall, auf ihren Stangen. Doch hat’s vor Tagen angefangen, dass morgens, eh’ die Amsel singt, ein Krähen aus der Stallung dringt, so wie des toten Hahnes Stimme! Nur klingt sie - und das ist das schlimme - unendlich traurig, wie von weit, ganz aus der Welt und fern der Zeit, als grüße er mich leis’ von drüben ... und müsse noch das Krähen üben ... - Nun weiß ich schon, der Leser denkt: „Der Dichter hat das Hirn verrenkt, uns solche Lügen aufzutischen!“ Doch las ich es im Buch inzwischen: „Sind Hennen lange nicht bemannt, wird eins der Hühner dominant, beginnt sich männlich aufzublähen und manchmal lernt es gar zu krähen!“ So also liegt in meinem Stall - jedoch nur äußerlich! - der Fall: Eins von den Hühnern, die mir blieben, folgt starken, rätselhaften Trieben und kräht, als ob’s ein Gockel wär. Doch reicht es leider nicht für mehr, schon gar nicht, wie ein Hahn zu treten. Es ist als würde mit Trompeten ein großer Sänger angezeigt, doch ist, der dann aufs Podium steigt, nur fähig Hänschenklein zu singen - ganz ähnlich ist’s in vielen Dingen: Da hat man wunder was gemeint, doch nichts ist wirklich, wie es scheint - und eben nicht allein bei Tieren! Doch ohne weit’res Zeitverlieren, geb’ ich ein paar Exempel jetzt: - Ein Leitungsamt wird neu besetzt, man(n) hat die besten Referenzen! Doch bald, sehr bald verblasst das Glänzen, kaum sitzt man(n) auf dem hohen Stuhl! Die Nachtigall ist nur ein Uhl, kann weder reden, leiten, führen und lässt es seine Leute spüren, wie eng und kurz sein Können misst. - Mein zweites kleines Beispiel ist ein Fall jetzt mehr aus dem Privaten: Wie oft erkennt man erst an Taten, wie wenig doch die Worte wert! Da wurde mündlich rausgekehrt, man „wolle“ bald, jawohl, man „werde“ ... Dem Wort gemäß bebt schon die Erde ... doch folgt kein Fingerzucken nach. Des echten Wollens Kraft liegt brach und straft damit den Willen Lügen. Exempel drei bis sieben fügen sich nahtlos in die Reihe ein: - Ein „großer Mensch“ wird oft recht klein, wenn wir ihn aus der Nähe sehen. - Die gern im Licht der Bühnen stehen erscheinen hässlich - ungeschminkt! - Des Herrn Ministers Anseh’n sinkt, kaum dass er anfängt, selbst zu denken. - Und die sich „gläubig“ tief versenken und üben Kirchgang und Gebet, sind oft, wenn’s um die Praxis geht, Analphabet in Herzensdingen. - So manche Reiche schließlich bringen aus Überfluss nur Geiz herauf. - Es ist genug, ich höre auf, nicht ohne noch den Schluss zu ziehen: Ein Huhn, das halb zum Hahn gediehen, bleibt doch ein Huhn, das heißt: ein Tier. Und von den Tieren wissen wir, nur triebgesteuert ist ihr Handeln. Nicht schuldhaft scheint’s, wenn sie sich wandeln, auch wenn die Henne plötzlich kräht. Doch ist von andrer Qualität, wenn Menschen ähnlich sich verhalten: Es ist nicht gut, sich aufzuspalten in Vorher - Nachher, Echt und Schein. Das, was man sieht, soll einer sein! Ein Mensch, der öffnet seinen Schnabel, ist dann nur wirklich akzeptabel, wenn Reden sich mit Handeln deckt. Wer hinter „Kikriki“ versteckt, dass er in Wahrheit eine Henne, dem glaubt man nicht und ich bekenne: Viel lieber hab’ ich’s da zu tun mit meinem triebverdrehten Huhn! Manfred Günther Längs und quer zur Zeit - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 04