Wiegen schafft Gemeinschaft Nach einem Thermenurlaub geschrieben Mein Thema heute: Ich verdichte, die wirklich seltsame Geschichte, in der es um das Wiegen geht. Doch dass ihr mich gleich recht versteht: Gemeint ist Wiegen auf der Waage! Es hat, dass ich’s genauer sage: mit Babys Wiege nichts zu tun. - Soweit, so gut. Wir starten nun, indem wir erst nach Waagen sehen, wie sie bei uns zu Hause stehen, an der Toilette nahe bei ... Ja, manchmal sind es zwei und drei, meist nach der Zahl der stillen Orte. (Braucht es Erklärung, braucht es Worte, warum man sie dort finden kann?) Hier werden sie von Kind und Mann und ganz besonders von den Frauen benutzt, um (stündlich!) nachzuschauen, ob wohl das Waagenzünglein fällt (wenn man sich nicht am Waschtisch hält!). Jedoch - und das ist leider häufig! - meist ist das Zünglein gegenläufig. Am Ende freilich gilt die Sicht: Verpassen wir das Wunschgewicht, weil wir zu viele Pfunde tragen, dann ist es klar: Schuld sind die Waagen! Doch gilt das niemals umgekehrt: Verloren wir, was uns beschwert durch Null-Diät und Nachtischfasten, dann gehen abgespeckte Lasten auf „uns“ und „Disziplin“ zurück! - Wir geh’n im Thema jetzt ein Stück hinaus aus häuslichen Bereichen zu Waagen, die den eignen gleichen, nur sind sie stärker frequentiert, durch starke Nutzung strapaziert. Wir finden sie in allen Fällen an solchen Orten, solchen Stellen, an denen Publikum verkehrt. Dabei sind Waagen heiß begehrt, die dort ihr Wiegeamt bekleiden, wo Menschen meistens Kleidung meiden (und schon der Augenschein ermisst, wofür kein Wiegen nötig ist), gemeint sind Bäder oder Thermen und wo uns Saunadämpfe wärmen, so dass wir, wie wir eben sind, voll blinder Einfalt, wie ein Kind, kaum dass wir uns ins Bad bequemen, schon glauben, kräftig abzunehmen, was jeden gleich, nachdem er’s spürt, ganz eilig hin zur Waage führt, um dort Gewissheit zu bekommen: „Jawohl, ich habe abgenommen!“, (was ohne Kleidung immer stimmt!) - Wenn dann der Waage-Zeiger klimmt, zeigt sich das rätselhafte Streben, den andern allen kund zu geben, was unsre Wiegeskala zeigt. Wo sonst Intimes man verschweigt, da neigt man hier zum Öffentlichen! Es wird geprahlt, geklagt, verglichen, wo man gewichtemäßig liegt, wie viel der eigne Körper wiegt und was das heißt „in meinem Alter!“. Die Waage wird zum Unterhalter, auf den man halbminütlich tritt. Auch teilt man sich Methoden mit zum Fasten und zum Fett-Verbrennen. Die Menschen, die sich gar nicht kennen, sind plötzlich durch den Speck geeint. - Dies ist der Grund, warum mir scheint, die Waagen stimmen mild und friedlich! Sind Menschen sonst auch unterschiedlich und hat auch jeder sein Problem, das Wiegen macht sie angenehm und fähig und bereit zum Sprechen. Die öffentlichen Waagen brechen des Menschen dumpfe Einsamkeit, man wird gemeinschaftlich, bereit, sich ganz zu öffnen, mitzuteilen ... So kann das Wiegen zwar nicht heilen, wenn sich die Körperfülle mehrt. Doch ist Gemeinschaftsgeist versehrt, und Nächstenliebe am Erkalten, dann kann das Wiegen neu entfalten, was oft schon tief vergraben lag. - So ist es des Gedichts Ertrag, den Blick aufs Wiegen hinzulenken und das Gesagte zu bedenken, um öffentlich in Dorf und Stadt (dort wo der Ort sein Zentrum hat) sehr zahlreich Waagen aufzustellen. Ihr werdet seh’n: In allen Fällen entsteht hier nach Minuten schon ein Platz der Kommunikation: Was einer wiegt, beschäftigt jeden und ist ein Anlass, um zu reden und Reden schnürt, das ist bekannt, ein stärkendes Gemeinschaftsband - der Einsamkeit der Zeit entgegen. So schaffen Waagen Wärme, Segen, dort wo zuvor nur Kälte war. Ist das nicht wirklich wunderbar? Manfred Günther Längs und quer zur Zeit - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 03