Atemnot im Advent* oder: Weihnachtsvorbereitung beim Zahnarzt Frau Guste Schnieder** hat vor Wochen zwei Schneidezähne abgebrochen, die vorne oben mittig steh’n. Der Fehler ist nur schwer zu seh’n und lässt sich - weil ihn Lippen decken - vor fremden Blicken gut verstecken. Doch kann das aus des Lesers Sicht, schon rein ästhetisch sicher nicht für alle Ewigkeit so bleiben! Ich denke, ich muss nicht beschreiben, wie schlecht man ohne Schneidezahn nur beißen kann. Es gleicht dem Hahn, der ohne Sporen treten wollte. Wir sind uns einig: Guste sollte zu ihrem Zahnarzt Doktor Mann**, weil der ihr sicher helfen kann, recht bald schon in die Praxis gehen. Jedoch - man kann es kaum verstehen - die Guste scheut - es ist ein Fluch! - seit langem jeden Arztbesuch. Besonders am Gebiss die Macken begründen starke Angstattacken: Der Schmerz, das Ausgeliefertsein... Sie kriegt die Panik schon allein, wenn sie beginnt, daran zu denken. - Heut’ sieht man sie die Schritte lenken zur Praxis Mann, sie hat Termin! Sie wirkt als wär’ durch Medizin vielleicht auch Schnaps sie stark benommen! Gab das den Mut wohl für ihr Kommen? Ihr irrt, es war die Weihnachtszeit! Wer will, ist Christtag nicht mehr weit, denn oben auf den Stümpfen beißen? Die Nüsse, wie sie alle heißen, der Rinderbraten und die Gans, die Plätzchen waren Stimulans***, die Guste heut’ hierher getrieben. Sie zählt zu denen, die es lieben, was alles Weihnacht uns beschert und glaubt, das ist die Panik wert! - Jetzt sitzt sie zur Behandlung drinnen. Herr Dr. Mann will grad beginnen, dass er der Zähne Bruch beschleift... Da schnappt, als er nach innen greift, obwohl die Guste selbst apathisch, ihr Mund vor Angst ganz automatisch nach des Herrn Doktors Schleifgerät. Des Arztes Virtuosität bewahrt das Werkzeug vorm Verschlingen! Geht’s nicht von selbst, muss man’s erzwingen: Der Doktor macht aus einem Teil von Kunststoff einen starken Keil, um Gustes Kiefer aufzusperren. Jetzt hilft kein Schnappen, Winden, Zerren, bald ist die Schleifarbeit vollbracht. Schon wird die Masse angemacht, um einen Abdruck abzunehmen. Wer rechnet hier denn mit Problemen? Die Masse härtet, tut nicht weh und ist sie fest, ein kleiner Dreh, dann ist die Sache überstanden. Doch Guste kam die Luft abhanden, gerade als Herr Dr. Mann den Abdrucklöffel nahm und dann in ihrem Mund von unten drückte. Den Löffel einzusetzen glückte, doch schnappte (ohne Keil!) im Nu jetzt Gustes Unterkiefer zu: des Arztes Finger sind gefangen. Die Guste aber, voll Verlangen nach Atemluft, beginnt zu beben, sich aus dem Zahnarztstuhl zu heben, versucht mit Würgen und mit Rütteln, die Hand aus ihrem Mund zu schütteln, die keine Luft passieren lässt, jedoch des Arztes Hand sitzt fest. Er selbst fängt an in hohen Tönen vor Schmerz zu jammern und zu stöhnen! Worauf nun Guste Schritt um Schritt (Herr Doktor Mann muss immer mit!) den Zahnarztstuhl komplett umschreitet. Des Arztes Augen sind geweitet, er fürchtet um die halbe Hand, denn Guste, außer Rand und Band, setzt an zu einer zweiten Runde... Da dringt aus des Herrn Doktors Munde ein schrecklich lauter schriller Schrei! Die Assistentin eilt herbei (die eben kurz mal ausgetreten) und hat, noch ehe sie gebeten, der Guste ihren Weg verstellt. Die stoppt abrupt, der Doktor fällt, wobei die Finger sich befreien. Jetzt hört man Guste Schnieder schreien: „Ich habe endlich wieder Luft!“ Doch klingt es wie aus Grabeskluft, noch klebt der Löffel ihr am Gaumen! Mit seinem heil geblieb’nen Daumen, drückt Mann den Abdruck jetzt heraus. Nun ja, der sieht gelungen aus. - Wie’s weitergeht? Die Guste Schnieder kommt nächste Woche, Dienstag wieder. Doch trifft sie dann statt Doktor Mann nur seine Assistentin an! Der Zahnarzt, wegen Fingerschäden, hat selbst Termin beim Orthopäden, den hat er, habt ihr’s nicht gedacht?, bewusst für Dienstag ausgemacht. Manfred Günther * So ähnlich soll es wirklich passiert sein! ** Alle Namen sind verändert *** Stimulans = Mittel zur Anregung Der Karl, die Frieda und die andern... - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 88