Der Kirschkuchen Omas achtzigster Geburtstag Heut’ ist was los im Hause Meier*, die Oma hat Geburtstagsfeier! Die Tochter Grit, der Schwiegersohn sind auf seit fünf Uhr zwanzig schon. Was war nicht alles noch am Morgen für’s Fest zu richten, zu besorgen: Getränke, Milch und Schokoguss, Konfekt (für Oma ohne Nuss!), Papiertischdecken und Servietten, Hanuta, Brezeln und Salzletten, dann Sahne, Butter und Backin, zum Süßen etwas Saccharin**, vom frischen Schmand so viel zwei Tassen, füllt man sie auf bis oben, fassen. Zur Deko noch so dies und das und dann: ein Sauerkirschenglas! Die Kirschen nämlich sind sehr wichtig! Sie machen erst die Feier richtig, denn schon seit Oma sechzig war, gibt’s am Geburtstag jedes Jahr den selben Kuchen (nein, den gleichen!). Er gilt als das Erkennungszeichen für Oma Meiers Wiegenfest! (Und wenn Ihr gerne Kuchen esst, dann müsst Ihr diesen mal probieren!) Wir geh’n jetzt ohne Zeitverlieren zurück in Oma Meiers Haus. Dort sieht es richtig festlich aus, besonders festlich, muss man sagen. Warum „besonders“ wird man fragen? Das liegt daran, nur dass Ihr’s wisst, weil Oma heut’ die Achtzig ist und weil darum sich Pfarrer Schnieder*, wie vor fünf Jahren heute wieder für eine Andacht angesagt. Er hat dabei auch angefragt: „Wird’s wohl auch Kirschenkuchen geben? So guten gab’s in meinem Leben davor und auch danach nicht mehr!“ Man denkt, die Hausfrau freut das sehr, doch Meiers Grit hat Sorgenfalten! Kann heute wohl ihr Kuchen halten, was Schnieder sich davon verspricht? Zumal, vergessen ist es nicht!, in Schnieders Kuchenstück vor Jahren nebst Kirschen auch zwei Kerne waren... und wirklich nur in seinem Stück! Der Pfarrer sprach dann zwar von „Glück“, das dies bedeutete...wahrscheinlich... Doch Meiers Grit war’s schrecklich peinlich und heute noch wird ihr ganz heiß. So hat vorm Backen sie mit Fleiß, damit sie noch vorhand’ne Kerne aus ihrem Inneren entferne und sich nicht neuerlich blamiert, die Kirschen einzeln kontrolliert, obgleich - wie auf dem Glas zu lesen - sie „sorgsam handentsteint“ gewesen. Sie waren’s nicht! Die Hausfrau fand drei Kerne noch, was allerhand und kaum als „sorgsam“ zu verbuchen. Jetzt steht er fertig da, der Kuchen und dürfte wohl von Steinen rein und so wie immer schmackhaft sein! - Es ist halb drei im Hause Meier, grad schließt die Andacht vor der Feier. Man atmet durch und sitzt bequem, jetzt wär’ ein Kuchen angenehm... Der wird gebracht, ist vorgeschnitten. Herr Pfarrer Schnieder lässt sich bitten, gibt hin den Teller und zurück reicht Grit des Kuchens erstes Stück. Ein Klecks von Sahne noch daneben, dann kommt das erste Löffelheben: Des Pfarrers Blick verrät Genuss, es schmeckt ihm, heißt ganz klar der Schluss. Na, Gott sei Dank! - Beim zweiten Bissen will’s Meiers Grit noch einmal wissen. Des Pfarrers Kehlkopf ruckt und zuckt, dann hat er diesen auch verschluckt. Dann also ist, so will es scheinen, der Kuchen diesmal rein von Steinen! Die Hausfrau hat nun endlich Ruh und wendet sich den andern zu, den alten Herrn und alten Damen, die heut’ zu Omas Feier kamen. Zwar sind die Kuchenstücke knapp, doch jeder kriegt jetzt eines ab. Doch was ist das: Herr Pfarrer Schnieder steht auf, ja, geht denn der schon wieder? Er sagt, wobei er schmerzlich grinst, es warte noch ein andrer Dienst. er müsse leider sich empfehlen. Bei insgesamt zweitausend Seelen, da fehle ihm doch oft die Zeit. Er wäre aber gern bereit jetzt Oma jährlich zu besuchen! „Und vielen Dank auch für den Kuchen, der wieder, auch in diesem Jahr, wie schon einmal, vorzüglich war!“ Dann grüßt er und versichert allen, es hätte ihm sehr gut gefallen. Zu Oma noch ein kurzes Wort, dann ist Herr Pfarrer Schnieder fort. Die Hausfrau schaut nach seinem Teller. Kein Stein, nur noch ein Klecks, ein heller. Ist wohl der Pfarrer auf Diät und hat den Sahneklecks verschmäht? Doch was ist das? Der Klecks wird kleiner, ein Stein erscheint und dann noch einer, die Sahne schmilzt und gibt sie frei... O Gott, jetzt sind es doch schon drei und immer noch ist’s nicht zu Ende! Die Hausfrau starrt und ringt die Hände. Die Sahne schwindet und verfällt und offenbart, was sie enthält: Vier, fünf und sechs und schließlich sieben! Die andern sind verschont geblieben, nicht einer sonst fand einen Stein. Der Pfarrer muss ein Glückspilz sein! Manfred Günther * Namen sind geändert ** Saccharin = synthetischer Süßstoff Der Karl, die Frieda und die andern... - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 76