Er ist blind! oder: Der Mann in der Damensauna Ein Frauenclub aus Ober-Roden war jüngst zum Kuren in Bad Soden, drei Wochen lang. Die Kost war schmal, der Tagesablauf eine Qual aus Fitnesstraining und Massage, nebst Nordic Walking, Lymphdrainage, und Wassertrinken mit Geschmack nach faulem Ei und Ammoniak... Sehr schön war’n nur die Saunagänge von einer guten Stunde Länge, am Abend vor dem Schlafengeh’n, von kurz vor neun bis kurz nach zehn. Ganz unter sich war’n sie, die Damen... Bis eines Abends Schneiders kamen, Irene Schneider...und ihr Mann! Ja, ihr hört recht: Sie geht voran, führt ihn am Arm wie einen Blinden. Auch trägt er eine von den Binden in gelb, wie sie ein Blinder trägt. Die Blindheit scheint recht ausgeprägt, man sieht’s an der getönten Brille. Die Sauna füllt empörte Stille: die Frau’n sind nackt, wie Gott sie schuf! Da tönt nun laut Irenes Ruf: „Mein Knut ist blind, er kann nicht sehen! Drum kann er auch allein nicht gehen, für ihn herrscht immer tiefste Nacht, so hab’ ich ihn halt mitgebracht, er bleibt nicht gern allein im Zimmer. Nochmal: Er sieht nicht einen Schimmer! Dass nichts euch irritieren kann, lässt er die Badehose an, ich heiße übrigens Irene!“ Ganz langsam lässt jetzt Anna-Lene das Handtuch, das sie unbewusst bei Knuts Erscheinen vor die Brust gezogen hat, nun wieder sinken und stellt sich vor. Dann ihr zur Linken setzt Amelie die Reihe fort. Jetzt nimmt Angelika das Wort, dann Dorothea und Sieglinde. So wie ein Lahmer hockt der Blinde - auch seine Beine scheinen krank! - mit Hose auf der Saunabank und schon beginnt er auch zu schwitzen. Die Damen, wie sie da so sitzen, schau’n immer wieder zu ihm hin und jede denkt in ihrem Sinn, ob es wohl stimmt, dass seine Augen, kein bisschen mehr zum Sehen taugen? Ob Knut nicht doch hier nur zum Schein behauptet, völlig blind zu sein? Bekannt ist, Männer sind gerissen! Nur wie, wie soll man’s sicher wissen? Doch weil der Mensch, was fraglich ist, recht gern verdrängt und dann vergisst, glaubt man Irene notgedrungen, gibt sich bald frei und ungezwungen und hat auch Knut, der schweigend schwitzt und still in seiner Ecke sitzt, bei Schwatz und Plaudern unterdessen nicht mehr im Blick und fast vergessen... So geht es für den Rest der Zeit. - Dann, eines Morgens ist’s soweit, vergangen sind die Kurlaubswochen, der Reisetag ist angebrochen. Man packt und bringt die Koffer raus, steht an den Autos vor dem Haus, dort auf dem Parkplatz in Bad Soden: der Frauenclub aus Ober-Roden sowie Irene und ihr Knut... Doch staunt man, was der Knut da tut: Er ist dabei ganz ohne Säumen, die Koffer hinten einzuräumen und hat heut’ keine Brille auf. Beschwingt und sicher ist sein Lauf, auch spricht er mit der Frau Irene. Ganz unbegreiflich wirkt die Szene, die Damen steh’n mit off’nem Mund. Ist wohl ein Wunder hier der Grund, dass eines Blinden Augen sehen und eines Lahmen Beine gehen - nach nur knapp vierzehn Tagen Kur? Irene schaut auf ihre Uhr und wirkt, als ob sie’s eilig hätte. Auch Knut will rasch von dieser Stätte, schon steigt er fahrerseitig ein... da hört man Anna-Lene schrei’n: „Irene, darf ich dich wohl fragen, hast du uns Frauen nichts zu sagen?“ „Nun ja“, fängt diese kleinlaut an, „ihr meint, dass Knut nicht sehen kann? Ich gebe zu, das war gelogen, doch hat mich Angst dazu bewogen. Der Knut - als Mann - ist ungehemmt, geht, wo’s nur möglich ist, gern fremd! Bei allen Kuren, die wir hatten, gab’s heimlich immer wieder Schatten! Doch bleibt er brav, wenn ich ihn seh’ und darum kam mir die Idee, ihn für die Sauna zu maskieren, um ihn auch da zu kontrollieren; er braucht es, dass man ihn bewacht. Was euch betrifft, hab’ ich gedacht, ob Hals, ob Brust, ob Po, ob Waden, durch Blicke kommt man nicht zu Schaden! Ihr seid doch nach wie vor komplett! Und wisst ihr was: Knut fand es nett!“ Manfred Günther Der Karl, die Frieda und die andern... - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 66 Der Karl, die Frieda und die andern... - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 66