Über Nacht bei der Oma oder: Der Terrorist in der Besucherritze Besuch bei Klaus und Hilde Henkel von Tochter, Schwiegersohn und Enkel. Der Tag, war schön, den man verbracht, jetzt ist bald acht, es kommt die Nacht, die Gäste wollen heimwärts gehen. Sie würde gar zu gerne sehen, meint Oma jetzt, ob denn das Kind, wenn seine Eltern ferne sind, schon reif ist, hier bei ihr zu schlafen? „Klein-Kevin zählt doch zu den Braven, und ist ja immerhin fast drei!“ Ob’s da nicht heute möglich sei, dass Kevin bei der Oma bliebe? Der Vorschlag findet Gegenliebe bei Tochter und beim Schwiegersohn. Die Oma Hilde freut sich schon, da äußert Opa seine Fragen: „Und wenn’s nicht klappt? Wer kann denn sagen, dass Kevin nicht die Nacht lang weint?“ Der Schwiegersohn jedoch verneint, auch ihr wär’s recht, meint Tochter Liese. (So eine Möglichkeit wie diese, mit ihrem Mann mal auszugeh’n, gab’s lange nicht und wir versteh’n, dass sie nicht zögert, sie zu nutzen!) - Ein Märchen noch vorm Zähneputzen, ein bisschen Schmusen, Eipopei, dann ist der Kindertag vorbei. Es geht hinauf ins Mädchenzimmer, dort wo wie einst im Lampenschimmer der Liese erstes Bettchen steht. So wie ein Duft von Blumen weht ein wenig Wehmut aus dem Kissen, nach dem, was Eltern erst vermissen, wenn ihre Kinder lang schon groß. Doch langsam lässt jetzt Hilde los der Kinderzeit Erinnerungen. Es wird gebetet und gesungen das „Ich bin klein...“ und „Lalelu...“ und Kevin macht die Augen zu, schon ist das Kind ganz sanft entschlummert. Die kleine Nachttischlampe schummert und Omas Züge werden weich: Wie lieblich, einem Engel gleich, liegt Kevin da, so wie vor Jahren, als sie noch junge Eltern waren die Liese da lag: süß und klein. Kann’s auch wie damals nicht mehr sein, das Kind im Schlaf lässt Oma träumen... - Um nicht den Tatort zu versäumen, eilt Hilde jetzt im leichten Trab zum Opa vorm TV hinab, dort hat der Krimi schon begonnen. Kaum ist das erste Blut geronnen, die erste Gangsterjagd vorbei, erschallt ein heller schriller Schrei - nicht aus dem Bildschirm, nein, von oben! Dann tönt es, wie wenn Teufel toben und so, wie wenn man Sensen wetzt. Was ist da los? Die Oma hetzt hinauf die dreiundzwanzig Stufen! Hat wohl Klein-Kevin sie gerufen? Sie stürzt ins Mädchenzimmer und sieht schon des wilden Tobens Grund: Der Enkel springt auf der Matratze und schreit dabei wie eine Katze „nach Hause gehen“ und „Mama“, auch ruft er „Angst“ und dann „Papa“, wobei er mit dem Köpfchen schüttelt und an des Bettchens Gitter rüttelt. Die Oma Hilde steht erstarrt und fragt sich, ob ein Spuk sie narrt? Das ist doch nicht der süße, feine und brave engelgleiche Kleine, den vor Minuten sie gelegt!? Ihr Herz schlägt schnell, sie ist erregt, doch spricht sie sanft, beruhigend, leise und ganz auf mütterliche Weise: Es wär’ doch in der Welt jetzt Nacht, die Erde schläft, nur Kevin wacht, auch „Oma will zu Bett nun gehen...“ Und Kevin scheint es zu verstehen, er schweigt und setzt von selbst sich hin, verflogen ist sein Eigensinn, er schließt die Augen, legt sich nieder. Die Oma schleicht nach unten wieder und sinkt entkräftet vors TV. Nach fünf Minuten ganz genau geht neuerlich, im Hause oben, das Heulen, Rütteln, Kreischen, Toben, kurz Höllenlärm - „was hat er bloß?“ - in Lieses Mädchenzimmer los! Und Hilde? - sieht man wieder Hetzen, nach oben geht’s in wilden Sätzen... Dort ist jetzt alles wie vorher: Klein-Kevin rast und schreit noch mehr: „genug geschlafen“, „Angst“, „Papa“, „nach Hause gehen“ und „Mama“. Jedoch es klappt zum zweiten Mal: „Die Erde schläft“ ist das Signal! Derweil die Lampe weiter schummert, legt sich auch Kevin hin und schlummert. Und wieder sinkt die alte Frau in ihren Sessel vorm TV. - Um hier das Weit’re kurz zu machen: Dies Legen und zum Schrei’n Erwachen tritt um die dreizehn Mal gehäuft noch auf, solang’ der Krimi läuft. Danach, man will nun selbst sich legen, beschließt man, der Vernunft entgegen, aus Not und doch verhängnisvoll, das, was man niemals machen soll, womit, so meinen Pädagogen, ein Kind verzogen und verbogen und leicht zum Querulanten wird! Doch Henkels treiben unbeirrt die Fehlerziehung auf die Spitze: Das Kind kommt in die Mittelritze des Ehebetts und strahlt dabei! - So war dem Toben, dem Geschrei nun endlich doch Erfolg beschieden! Das Kindlein lächelt, ist zufrieden, weiß jetzt, was geht und weiß auch wie: Nur mit Zermürbungsstrategie!) Jetzt bleibt’s dabei: der Kleine schlummert, auch wenn hier keine Lampe schummert. Doch etwas anderes beginnt: Minütlich dreht sich jetzt das Kind und bald schon scheint es zu rotieren. Dabei schlägt’s aus mit allen Vieren auf Opas Rücken, Brust und Bauch und Oma Hilde tritt es auch. So geht es bis zum frühen Morgen. Klein-Kevin tritt, schläft selbst geborgen und findet’s sichtlich auch sehr nett im Mittelritz vom Ehebett und lässt sich Zeit mit dem Erwachen. - Um endlich nun den Schluss zu machen: Für Oma, Opa war die Nacht, die Hölle - qualvoll und durchwacht! Am Morgen dann gleicht Oma Hilde nur sehr entfernt dem eig’nen Bilde und erst ihr Mann, der Opa Klaus, sieht wie sein eig’ner Opa aus. - Die Lehre noch, bevor wir schließen: Soll euch der Enkel nicht verdrießen, dann gilt, ihr Omas hört gut zu: Besucherritzen sind tabu! Manfred Günther Der Karl, die Frieda und die andern... - Gedichte für Alsfelder Allgemeine Zeitung 61