Wunder Ein Christ, der nie den Kirchgang pflegte, erscheint in „seinem“ Gotteshaus. Dort sitzen fünfzig Unentwegte, die schaun sich an: „Ja, ei der Daus!“ „Was will denn der in unsrer Mitte? Hier findet schließlich Kirche statt!“ „War dem denn so was jemals Sitte? Ob der sich wohl verlaufen hat?“ So schwätzt und tuschelts in den Reihen und laut, dass unser Christ es hört. Man kann ihm sichtlich kaum verzeihen, dass er heut kam. Man merkt: Er stört! Doch setzt er sich, trotz solcher Zungen und singt und betet, lauscht gebannt des Kanzelredners Äußerungen und geht, aufs nächste Mal gespannt. Und wirklich - neuerliches Staunen! - am Sonntag ist er wieder da. Und wieder hört mans zischeln, raunen: „Ein Wunder ists, was da geschah!“ „Hat einer den seit zwanzig Jahren in unserm Gottesdienst gesehn?“ - „Nein, wirklich seltsam dies Gebaren! Kann einer noch die Welt verstehn?“ Der Christ - er hört es! - setzt sich nieder und bleibt auch noch für dieses Mal; am nächsten Sonntag fehlt er wieder... Jetzt tuschelts anders rings im Saal: „Ich wusst es gleich, so wird es kommen! Sein Interesse war nur Schein!“ - So blieben unter sich die Frommen; ein Wunder kann und darf nicht sein! Manfred Günther