Notlüge Ein Christ, vom Brauch im Dorf gedrungen, besucht in Schwarz das Gotteshaus. Ein Todesfall hat ihn gezwungen: Es starb die Frau von Vetter Klaus. Er sieht sich um und setzt sich nieder; es ist so manches lange Jahr vergangen, seit er - hin und wieder! - als Konfirmand zur Kirche war. Doch scheint hier alles noch beim Alten: Der Blumenschmuck welkt vor sich hin, die Decke am Altar wirft Falten, die greise Kirchendienerin... Ist gar sein Name noch zu sehen, den damals er ins Holz geritzt? Jawohl! Er sieht ihn drüben stehen, genau wo Tante Gerda sitzt. Wie ist das schön! Er muss es lieben, dass alles noch wie gestern ist. Die Kirche ist wie frühr geblieben: wie ist man da doch gerne Christ! Nun trifft es sich beim Kaffeetrinken - das Leben spielt manch arges Spiel! - setzt sich der Pfarrer ihm zur Linken und fragt auch prompt, wies ihm gefiel? Der Christ wird blass; was soll er sagen? Denn sagt er „gut“, dann wird ganz klar der schlaue Pfarrer weiter fragen... und sagt er „schlecht“, dann wärs nicht wahr... Der gute Christ gerät ins Schwitzen! (Was jeder nachempfinden kann: Wer will so nah beim Pfarrer sitzen?) Da rührt ihn ein Gedanke an: „Der Gottesdienst, den Sie gestaltet, war ohne Zweifel tadellos! Doch ist die Kirche selbst veraltet, von damals noch! Man fragt sich bloß, wieso die Menschen sie noch lieben, wo alles doch von gestern ist? Sie ist genau wie frühr geblieben: Wer ist da heut noch gerne Christ?“ Manfred Günther