Predigt zum 10. Sonntag nach Trinitatis - 24.8.2014

Textlesung: 2. Kön. 25, 8 - 12

Am siebenten Tage des fünften Monats, das ist das neunzehnte Jahr Nebukadnezars, des Königs von Babel, kam Nebusaradan, der Oberste der Leibwache, als Feldhauptmann des Königs von Babel nach Jerusalem und verbrannte das Haus des HERRN und das Haus des Königs und alle Häuser in Jerusalem; alle großen Häuser verbrannte er mit Feuer. Und die ganze Heeresmacht der Chaldäer, die dem Obersten der Leibwache unterstand, riss die Mauern Jerusalems nieder. Das Volk aber, das übrig war in der Stadt, und die zum König von Babel abgefallen waren und was übrig war von den Werkleuten, führte Nebusaradan, der Oberste der Leibwache, weg; aber von den Geringen im Lande ließ er Weingärtner und Ackerleute zurück.

Liebe Gemeinde!

Das war der Abschnitt aus dem 2. Königsbuch, der uns heute für die Predigt vorgeschlagen ist. Aber - das haben Sie auch gespürt - er gibt nicht viel her, dieser Abschnitt. Etwas Aufbauendes schon gar nicht. Und wenn wir jetzt noch ergänzen, dass die Zerstörung Jerusalems und die Deportation seiner Bevölkerung im Jahr 587 vor Christus stattgefunden hat, wird es auch nicht besser. Was also sollen wir dazu sagen? Und was predigen?

Mir fällt dazu ein, dass die Propheten Israels die hier beschriebene Katastrophe schon lange vorher angekündigt hatten. Und dass sie eine Folge des Abfalls des Volkes von ihrem Gott war, fällt mir auch ein. Wir könnten also als Lehre aus diesem Abschnitt des 1. Königsbuchs ziehen: Gott lässt sich nicht spotten. Er hält Wort! Wenn er seinem Volk Heil verspricht, dann erlebt es Heil und gute Zeit. Wenn er aber Unheil ansagen lässt, dann kommt auch Unheil und böse Zeit. - Und sonst? Gibt es noch einen Gedanken, der einem in den Sinn kommt, wenn man diesen Bericht über die Zerstörung der Stadt Jerusalem und den Beginn der Gefangenschaft seiner Einwohner hört oder liest?

In einem Kommentar zu der Textstelle, die wir heute bedenken sollen, habe ich einen Satz gelesen, der mich auf eine Sache mehr im Hintergrund dieses Berichts aufmerksam gemacht hat. Er bezieht sich auf das Vorgehen der babylonischen Truppen, die in Jerusalem und besonders im Tempel Salomos ja auch einen ungeheuren Schaden angerichtet haben. Dabei waren die steinernen Mauern, die eingerissen und die Gebäude, die verbrannt wurden ganz gewiss nicht die größten Verluste. In den Häusern und besonders im großen Tempel gab es auch ungezählte Geräte, die für den rituellen oder gottesdienstlichen Gebrauch bestimmt waren und die durch ihr Alter oder ihre Widmung für den heiligen Gebrauch einen unschätzbaren Wert bekommen hatten. Einen Wert, den die plündernden Soldaten weder kannten noch schätzen konnten. Und über diese Geräte - wie zum Beispiel Leuchter, Becher, Schalen oder auch die Thora-Rollen spricht der Satz aus dem Kommentar, der mir zu denken gegeben hat: "Ein Teil der heiligen Gegenstände sinkt zum bloßen Metallwert herab."

Für die Soldaten des Nebusaradan waren die Thora-Rollen nur Schreibmaterial mit Schriftzeichen darauf, die sie sicher nicht verstanden haben. Die Leuchter und Schalen waren schon interessanter, sie waren oft aus Gold oder aus einem anderen Metall und von daher von Wert - allerdings nicht, wenn man sie behielt, sondern nur wenn man sie verkaufte. Für die Juden, die Menschen von Jerusalem aber waren sie heilig, dem Dienst für ihren Gott geweiht und darum unendlich wertvoll und unersetzlich. Die Mauern des Tempels, die anderen zerstörten Gebäude hätte man später wieder aufbauen können - und sie wurden wieder aufgebaut - alles aber, was die Menschen mit den heiligen Geräten verbanden, war unwiederbringlich verloren.

Liebe Gemeinde, wir springen mit einem gewaltigen Sprung in unsere Zeit. Erleben die Menschen nicht genau dasselbe auch heute? Wir haben gerade das 100. Jubiläum des Beginns des Ersten Weltkrieges begangen. Sieger gab es am Ende keine. Nur Verlierer auf allen Seiten. Und wie katastrophal waren die Schäden. Wie viel Bausubstanz in allen kriegsbeteiligten Ländern wurde dem Erdboden gleichgemacht. Wie viel Material, wie viel Eisen und Stahl wurde zu todbringenden Patronen, Granaten und Bomben. Wie viele Erinnerungen wurden aber auch ausgelöscht, wie oft war die Heimat, in der sie aufgewachsen waren und gelebt hatten, für die Soldaten, wenn sie überhaupt heimkehrten, nicht wiederzuerkennen. Und für die Vertriebenen, wenn sie später einmal "nach Hause" zurückkehren durften, war es genauso. Was vor dem Krieg gewesen war, das Leben bis dahin und was Heimat für sie war - alles unwiederbringlich verloren.

Und das hat sich im Zweiten Weltkrieg in noch viel größerem Ausmaß wiederholt. Und Menschen in der Ukraine unserer Tage, in vielen afrikanischen Staaten, in Syrien, dem Irak und Afghanistan und noch an vielen anderen Orten dieser Welt, an denen kriegerische Auseinandersetzungen stattfinden, erleben ganz ähnliche Dinge.

Aber - und jetzt sind wir beim wichtigsten Bezug dieses Gedankens - ist es mit den Menschen zur Zeit der babylonischen Gefangenschaft nicht genauso gegangen: Sind die Menschen damals - Sie müssen diese Ausdrucksweise entschuldigen - nicht auch wie die heiligen Geräte "zum bloßen Materialwert herabgesunken"? Und ist das nicht im Ersten und Zweiten Weltkrieg und in allen Kriegen davor und danach auch so gewesen? Und ist es nicht in den Kriegen unserer Tage immer noch so: Menschen werden zu Menschenmaterial herabgewürdigt. Werden zu "Truppenstärke" oder "Schlagkraft", zu "siegreichen Kräften" oder zu "Ausfällen" oder "Verlusten" und am Ende gehen sie in einer Zahl in der Zeitung oder der Tagesschau auf, wenn es heißt: "Es gab auf beiden Seiten mehr als 40, 100 oder 1000 Tote."

Liebe Gemeinde, was mich an diesem Gedanken bewegt, dass Menschen zu Material werden, benutzt und verschlissen und am Ende - unbrauchbar geworden - im besten Fall begraben werden, ist eben dies: Nicht nur die Geräte im Tempel und viele Gegenstände in den Häusern von Jerusalem hatten diese Eigenschaft, dass sie heilig waren und dass sie für Gottes Dienst bestimmt waren. Auch für die Menschen gilt das und es gilt darüber hinaus, dass Gott selbst sie gemacht hat! Wenn es also eine Steigerung von "heilig" gibt, dann sind wir Menschen noch viel "heiliger" als alle Geräte und Sachen. Und das gilt nicht für bestimmte, besondere Menschen, sondern für jeden Menschen, der über Gottes Erde geht.

Ich glaube auch nicht, dass wir Christinnen und Christen, aber auch die Angehörigen anderer Religionen darüber uneinig werden könnten. Der Mensch ist das einzige Wesen der Schöpfung, das mit Gott in Beziehung treten kann und Gott mit ihm. Er ist über die ganze Schöpfung erhoben, er ist von Gott gesegnet und beauftragt, alles Geschaffene zu hegen und zu pflegen. Aber ihm sind auch Grenzen gesetzt; diese Grenzen verlaufen genau dort, wo die Rechte unserer Mitmenschen beginnen. Oder anders gesagt: Die anderen Menschen sind Gott genauso heilig, wie wir es ihm sind. Wer also Menschen zu Material herabwürdigt, wer sie nach ihrem Gebrauchswert einschätzt und behandelt, der vergeht sich gegen die Menschen - und gegen Gott!

Viele von uns mögen jetzt denken: Aber wir tun das doch nicht! Wir achten doch, dass jeder Mensch von Gott geliebt und geheiligt ist. Niemals würden wir Menschen wie Sachen ansehen und nach ihrem Wert für den Gebrauch oder ihrem Nutzen für uns einschätzen. Und außerdem: Gott sei Dank ist bei uns ja kein Krieg!

Ja, Gott sein Dank ist bei uns kein Krieg! - Aber mit den Wirkungen von Kriegen in aller Welt haben wir schon zu tun. Denken wir nur an die zahlreichen Flüchtlinge, die ihre Heimat verloren und an fremden Orten in Lagern Zuflucht gefunden haben. Und denken wir an die Asylbewerber, die im Süden Europas zu Tausenden ankommen und auch bei uns Bleiberecht erlangen wollen. Aber - da will ich jetzt gar nicht die Parolen der rechten Szene anführen - auch bei uns - wenn wir ehrlich sind - kommen inzwischen oft Überlegungen auf und werden auch ausgesprochen, wie wir die "Asylantenflut" eindämmen und wie wir die "Fremden, die nicht hierher gehören" wieder loswerden können. Und auch wenn wir von "Wirtschaftsflüchtlingen" sprechen, wird es nicht besser. Unsere Sprache verrät uns. Und sie verrät die Flüchtlinge und Asylanten. Denn die sind - zuerst und ein für alle Mal - Menschen. Und als solche sind sie heilig - und sie sind das nicht nur für Gott, sondern sollen das auch für uns sein: heilig und gesegnet - so wie wir alle!

Sicher haben Sie jetzt auch schon weiter gedacht und sich gefragt: Stehen wir nicht auch im ganz normalen Alltag immer wieder in Gefahr zu vergessen, dass unser Mitmensch heilig ist und nicht nach seinem Nutzen und Gebrauchswert beurteilt werden darf? Nicht nur ein Arbeitgeber ist schnell versucht, nur noch danach zu fragen, was ein Mitarbeiter bringt. Und nicht nur Politiker geraten leicht in solches Reden: Wir müssen noch soundsoviele für unsere Sache mobilisieren!, womit sie uns nur zu "Wählern" oder "Stimmen" degradieren. Auch uns unterlaufen täglich ähnliche Dinge, wenn wir zum Beispiel Angehörige bestimmter Nationalitäten als "Problem" bezeichnen, bestimmten Religionen eine starke Neigung zu Terrorismus und Gewalt bescheinigen oder Mitgliedern bestimmter Parteien oder Berufsgruppen Geldgier und bloßes Karrieredenken unterstellen. Und diese Beispiele ließen sich beliebig vermehren.

Liebe Gemeinde, wir sollte hellhöriger werden, wie über andere Menschen gesprochen wird - auch von uns selbst. Besonders wir Christen wissen das und sollten es beachten: Menschen dürfen nicht nach dem beurteilt werden, was sie bringen, was sie nützen oder wozu man sie gebrauchen kann. Denn sie sind - zuerst und ein für alle Mal - Menschen. Und als solche sind sie heilig - und sie sind das nicht nur für Gott, sondern sollen das auch für uns Menschen sein: heilig und gesegnet - so wie wir alle! AMEN