Predigt zum Sonntag "Rogate" - 25.5.2014

Textlesung: 2. Mose 32, 7 - 14

Der HERR sprach aber zu Mose: Geh, steig hinab; denn dein Volk, das du aus Ägyptenland geführt hast, hat schändlich gehandelt. Sie sind schnell von dem Wege gewichen, den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und haben's angebetet und ihm geopfert und gesagt: Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat. Und der HERR sprach zu Mose: Ich sehe, dass es ein halsstarriges Volk ist. Und nun lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und sie vertilge; dafür will ich dich zum großen Volk machen. Mose aber flehte vor dem HERRN, seinem Gott, und sprach: Ach HERR, warum will dein Zorn entbrennen über dein Volk, das du mit großer Kraft und starker Hand aus Ägyptenland geführt hast? Warum sollen die Ägypter sagen: Er hat sie zu ihrem Unglück herausgeführt, dass er sie umbrächte im Gebirge und vertilgte sie von dem Erdboden? Kehre dich ab von deinem grimmigen Zorn und lass dich des Unheils gereuen, das du über dein Volk bringen willst. Gedenke an deine Knechte Abraham, Isaak und Israel, denen du bei dir selbst geschworen und verheißen hast: Ich will eure Nachkommen mehren wie die Sterne am Himmel, und dies ganze Land, das ich verheißen habe, will ich euren Nachkommen geben, und sie sollen es besitzen für ewig. Da gereute den HERRN das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte.

Liebe Gemeinde!

Ich denke, ich greife nicht zu hoch, wenn ich sage: Die acht Verse, die wir eben gehört haben, enthalten neben der Geschichte vom "Goldenen Kalb", mit dem das Volk Israel Götzendienst treibt, auch die Berichte über zwei Wunder, die damals geschehen sind. Eines war mehr göttlich, das andere menschlich. Und das Beste daran ist, beide Wunder können auch heute noch geschehen, wenn Gott will und wenn wir Menschen - und besonders, wenn wir Christen es wollen!

Vielleicht habe ich jetzt ihre Aufmerksamkeit und ihr Interesse geweckt: Sie wollen wissen, was diese beiden Wunder denn sind? Ich sag's Ihnen. Fangen wir mit dem "menschlichen" Wunder an.
Um dieses Wunder ganz zu begreifen, müssen wir uns kurz seine Vorgeschichte in Erinnerung rufen: Mose hatte die Israeliten im Auftrag Gottes aus der Sklaverei in Ägypten geführt. Am Berg Sinai lässt Gott sein Volk lagern und Mose auf den Gipfel des Berges steigen, wo er ihm die Tafeln des Gesetzes, die zehn Gebote geben will. Aber der Aufenthalt auf dem Berg dauert länger als gedacht, vor allem länger, als es das Volk ohne die Weisung Gottes aushalten kann. Aaron, der Bruder Moses soll den Israeliten einen Götzen schaffen, der auf der weiteren Wüstenwanderung vor ihnen hergehen soll, ein Stierbild, wie sie es aus ihrer religiösen Umgebung kennen. Und so gießt Aaron aus dem Schmuck der israelitischen Frauen ein Goldenes Kalb, das die Israeliten auch sogleich anzubeten beginnen. Wir können uns vorstellen, welche Wirkung das bei Mose hatte, als Gott ihm diesen ungeheuren Frevel offenbarte: "Geh, steig hinab; denn dein Volk, das du aus Ägyptenland geführt hast, hat schändlich gehandelt. Sie sind schnell von dem Wege gewichen, den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und haben's angebetet und ihm geopfert und gesagt: Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat."

Mose hätte allen Grund gehabt, jetzt vom Berg hinabzusteigen und die für den Frevel Verantwortlichen - allen voran seinen Bruder Aaron - zur Rechenschaft zu ziehen und die Führerschaft über ein solch störrisches Volk abzugeben. Es war ja auch nicht das erste Mal, dass Mose sich über sein Volk ärgern und entrüsten musste. Schon am Schilfmeer, als ihnen die Soldaten des Pharao auf den Fersen waren, fing das ja an: Kaum hatte sie Gott aus der Sklaverei befreit, brachten sie doch nicht genug Vertrauen auf, dass Gott sie jetzt auch vor Pharao retten und durch das Meer bringen würde: Das lesen wir darüber: "Und sie fürchteten sich sehr und schrien zu dem HERRN und sprachen zu Mose: Waren nicht Gräber in Ägypten, dass du uns wegführen musstest, damit wir in der Wüste sterben? Warum hast du uns das angetan, dass du uns aus Ägypten geführt hast?" (Ex.14,11)

Aber auch nachdem Gott die Israeliten ein weiteres Mal vor den Ägyptern gerettet hat, hören die Klagen nicht auf: Mal sehnen sie sich zurück an die "Fleischtöpfe Ägyptens" als sie noch "Brot die Fülle" hatten. Nachdem Gott ihnen Manna hat regnen lassen und sie mit Wachteln speist, ist ihnen auch das zu wenig. Schließlich meinen sie, sie müssten verdursten, weil ihnen das Wasser ausgeht. Aber auch hier sorgt Gott für sie: Mose schlägt Wasser aus dem Felsen.

Nach all den Klagen und der ewigen Nörgelei, aber auch nach allen Erfahrungen mit der Fürsorge Gottes fällt nun im Götzendienst am Goldenen Kalb das Volk ganz und gar ab von seinem Gott. - Noch einmal: Die Wirkung auf Mose, die Enttäuschung und der Zorn müssen gewaltig gewesen sein. Aber dennoch - und das eben ist das "menschliche" Wunder, das ich meine - dennoch bittet Mose bei Gott für das abtrünnige Volk: "Ach HERR, warum will dein Zorn entbrennen über dein Volk, das du mit großer Kraft und starker Hand aus Ägyptenland geführt hast? [...] Kehre dich ab von deinem grimmigen Zorn und lass dich des Unheils gereuen, das du über dein Volk bringen willst." Wie bringt Mose, der von seinen Leuten schon so oft enttäuscht worden ist, nur so viel Zuneigung auf und so viel Einsatz und Fürsprache!? Ich finde das wunderbar und kann nur darüber staunen. - Aber da ist noch das andere Wunder, das göttliche... Davon will ich jetzt sprechen:

Warum sollte Gott sich denn von seinem "grimmigen Zorn" abkehren? Warum sollte er sich des "Unheils gereuen" lassen? Wäre es nicht Zeit und wäre es nicht zu verständlich, wenn Gott nun wahr machte, was er Mose ansagt: "Ich sehe, dass es ein halsstarriges Volk ist. Und nun lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und sie vertilge." Genau wie Mose hat Gott doch immer wieder die Klagen, das Gejammer und die Nörgelei des Volkes gehört! Und immer wieder hat er Abhilfe geschaffen, aber das Volk hat doch kein Vertrauen zu ihm gefasst. Und was haben sie Gott jetzt angetan, indem sie sich einen Götzen schaffen und ihn anbeten! Aber Gott lässt sich erweichen! Er gibt seinem Volk eine weitere Chance. Der große Gott, den sein Volk wieder und wieder bitter enttäuscht hat, hört auf die Worte des Mose: "Kehre dich ab von deinem grimmigen Zorn und lass dich des Unheils gereuen, das du über dein Volk bringen willst." Und weiter heißt es: "Da gereute den HERRN das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte." - Auch das ist für mich ein Wunder, über das ich nur staunen kann!

Liebe Gemeinde, sie ahnen es, ich bin der Geschichte vom Frevel des Volkes Israel nicht nur entlanggegangen, dass sie jetzt mit mir staunen und einstimmen sollen in die Worte: Das sind wirklich zwei Wunder, über die wir da lesen. Nein, ich will uns heute Mut machen und Vertrauen wünschen dazu, dass wir das menschliche Wunder selbst vollbringen und das göttliche Wunder für möglich halten. Aber ich will das genauer erklären:

Kennen wir das nicht auch: Da hat uns ein Mensch, vielleicht ein Angehöriger, ein Freund, eine Freundin, ein Kollege, eine Kollegin zutiefst enttäuscht. Wir hatten sie völlig anders eingeschätzt. Wir hatten ihnen jeden Grund gegeben, uns zu achten und davon auszugehen, dass wir es gut mit ihnen meinen... Aber sie haben hinter unserem Rücken über uns gelästert, haben uns schlecht gemacht und nicht zu dem gestanden, was sie uns versprochen hatten. Sie haben an uns auf eine Weise gehandelt, die wir nun wirklich nicht verdient haben. - Wir hätten also allen Grund, mit ihnen zu brechen, sie abzuschreiben, ihnen die Freundschaft zu kündigen oder sie mit Verachtung zu strafen. - Genau an dieser Stelle aber will uns die heutige "Wunder"-geschichte etwas anderes empfehlen: Dass wir trotz aller Enttäuschung an den Menschen festhalten, die sich böse, hinterlistig, unwahrhaftig oder gemein uns gegenüber verhalten haben. Und darüber können wir auch im Neuen Testament lesen: Was sagt Jesus zu der Frage des Petrus: "Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Genügt es siebenmal?" Er antwortet: "Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal." (Mt.18,21f) Es wird uns nicht leicht fallen, uns so zu verhalten, wie es dem Mose nicht leicht gefallen ist. Darum auch habe ich es ein Wunder genannt, wenn wir es fertigbringen. Richtig oder sagen wir für uns besser: christlich ist es auf jeden Fall. Und vergessen wir auch nicht - wie Mose es schon getan hat - auch bei Gott für die Menschen zu bitten, die uns enttäuscht haben!

Und da sind wir noch bei dem anderen, dem "göttlichen" Wunder: Denken wir nie von Gott, er wäre unnahbar, unwandelbar und würde nicht auf unsere Bitten und Fürbitten eingehen. Er hört durchaus unser Flehen und lässt sich von unseren Gebeten beeinflussen. Ja, die Geschichte vom Frevel des Volkes Israel geht so weit, dass sie sogar davon spricht, Gott könne "bereuen", was er sich vorgenommen hat: "Da gereute den HERRN das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte", heißt es am Ende der Geschichte. Wie alle Menschen ja nach dem Bilde Gottes gemacht sind und darum auch göttliche Züge haben, so hat auch Gott menschliche Züge!

Liebe Gemeinde, bemühen wir uns nach Kräften um das Wunder, Menschen immer wieder anzunehmen, auch wenn wir von ihnen Böses oder Gemeines erfahren haben. Und rechnen wir auch immer wieder mit dem Wunder, dass Gott sich erweichen lässt, wenn wir ihn nur stark und lang genug bitten! AMEN