Predigt zum Sonntag "Judika" - 6.4.2014

Textlesung: Hebr. 13, 12 - 14

Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Liebe Gemeinde!

Ein sehr kurzer Predigttext und doch enthält er eine wichtige Botschaft für uns Christen. Vielleicht eine der wichtigsten? Allerdings können wir sie in dieser Zeit nur noch selten hören. Umso wichtiger ist es, dass wir sie heute mit den Ohren hören und mit unserem Herzen aufnehmen und verstehen. - Aber was ist diese Botschaft?

In jedem der drei Verse aus dem Hebräerbrief geht es darum. Die Stichwörter sind: "gelitten draußen vor dem Tor" - "lasst uns hinausgehen aus dem Lager" - "wir haben hier keine bleibende Stadt". Und wenn wir das in einen Satz fassen, dann haben wir auch die Botschaft dieser Verse beisammen: "Weil unser Herr außerhalb der Stadt Jerusalem gekreuzigt wurde, sollen auch wir nach draußen gehen und dort die zukünftige, bleibende Stadt, das himmlische Jerusalem suchen."

Wenn wir das so hören, begreifen wir zweierlei zu dieser Botschaft: Einmal gefällt uns das nicht besonders, nach draußen zu gehen zu dem Gekreuzigten und auch noch "seine Schmach zu tragen". Und wir verstehen, warum diese Verse in der Passionszeit "dran" sind, denn in andere Zeiten des Kirchenjahrs passen sie nicht so gut. Aber warum haben wir solche Schwierigkeiten mit dieser Botschaft? Warum fällt es uns so schwer, "hinauszugehen" zu unserem Herrn?

Immerhin: Ans Kreuz werden wir ja nicht geschlagen. Das hat Jesus schon für uns auf sich genommen, ein für alle Mal! Aber trotzdem haftet diesem Gedanken, "hinauszugehen" dorthin, wo Jesus für uns leidet, wo wir Zeuge seines Sterbens werden, wo Schmerzensschreie zu hören sind und Blutgeruch in der Luft liegt, etwas äußerst Unangenehmes an. Und unangenehm sind ja eigentlich alle Predigttexte der Passionszeit. Daran liegt es ja auch, warum die Gottesdienste an den Sonntagen auf Ostern hin, meist eher schwach besucht sind. Wenn erst die österliche Freudenbotschaft vom auferstandenen Herrn gepredigt wird, dann gehen die Menschen wieder lieber in ihre Kirche.

Aber wir sind jetzt hier und würden uns gern auf diese Botschaft einlassen - aber es fällt auch uns schwer, "hinauszugehen" zu Jesus... Dabei spielt die Zeit, in der wir leben, sicher eine große Rolle:

Da ist einmal unser Streben, uns innerhalb der Mauern, innerhalb der vergänglichen Stadt, in der wir leben, einzurichten, uns einen Raum zu schaffen, der schön ist, in dem wir uns wohlfühlen, aus dem wir alles Unangenehme aussperren können und ein Stück heile Welt erfahren.

Da ist aber auch die Meinung, die sich immer mehr breit macht, dass Menschen - und eben auch wir Christen - in der Welt sind, um ein überwiegend gutes, gesundes, frohes und glückliches Leben zu haben. Leid, Krankheit, Behinderung, Trauer und schwere Zeit passen nicht in dieses Leben, ja, wir betrachten sie eher als unerklärliche Ausnahmen von der Regel und so, als hätte der, aus dessen Hand wir das Schicksal empfangen, einen Fehler gemacht. Und der Tod passt schon gar nicht in das Leben, das wir uns wünschen und eigentlich erwarten.

Schließlich ist da noch ein Drittes, was uns davon abhält, "hinauszugehen" zu Jesus: Ich nenne es einmal den Hang, ja, den Drang zur Vereinzelung, dem wir immer mehr Raum geben. Psychologen würden vom "Individualismus" sprechen und von der zunehmenden "Individualisierung" der Menschen unserer Zeit. Man interessiert sich vielleicht noch in der Vorweihnachtszeit für die Armen und Hungernden dieser Erde. Ansonsten kümmert man sich lieber um sich selbst, vielleicht noch um die eigene Familie. Vereine und genauso die Freiwillige Feuerwehr beklagen Nachwuchsmangel und Mitgliederschwund. Nur noch wenige sind bereit, sich für die Gemeinschaft zu engagieren. Auch in den Kreisen der Kirchengemeinden ist das zu spüren. Und schon die Jugendlichen beschäftigen sich lieber mit ihrem Smartphone und ihrem Computer und kommunizieren mit sicherem Abstand elektronisch und nicht persönlich mit den Altersgenossen. Und wann sieht man noch einmal Kinder, die auf der Straße miteinander spielen, so wie früher: Mit einem Ball, mit Murmeln, Gummitwist oder Verstecken? "Ich mach' mein Ding!", singt Udo Lindenberg und fasst damit in treffender Kürze zusammen, was die meisten Menschen in diesen Tagen tun: Sich absondern, für sich bleiben, die Gemeinschaft meiden, sich um die eigene Person drehen...

Liebe Gemeinde, lassen wir das jetzt einfach so stehen oder sagen wir etwas dazu? Ich denke, wir müssen beides tun: Stehenlassen müssen wir, dass wir nicht gern "hinausgehen" zu Jesus, um seine Schmach zu tragen, dass wir uns gern innerhalb unserer Mauern einrichten und es dort schön haben und geborgen sein wollen, dass wir davon ausgehen, unser Leben müsse gesund und glücklich sein und es müsse ohne Krankheit und schwere Zeiten abgehen. Schließlich müssen wir auch einräumen, dass uns heute die Neigung zur Vereinzelung bestimmt, mehr als der Drang zur Gemeinschaft. - Das alles können wir nicht leugnen. Es ist einfach so.

Aber was sollen wir dazu sagen? Wie sollen wir daran etwas ändern - und ändern müssen wir etwas, denn es steht ja der Botschaft entgegen, die uns der Schreiber des Hebräerbriefs heute ausrichtet: "So lasst uns nun zu Jesus hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir."

Ich will es einmal so versuchen: Erst einmal müssen wir erkennen, dass auch das Leben von uns Christen verbunden ist mit Leid, mit Trauer, mit Krankheit, Behinderung und Tod - genau wie das Leben aller anderen Menschen. Vergessen wir es nicht: Das Symbol unseres Glaubens ist das Kreuz! Wir können das wahre Leben nicht am Kreuz vorbei, sondern nur unter dem Kreuz unseres Herrn gewinnen. Darum gehören wir unter sein Kreuz, draußen vor dem Tor...

Was bei uns Christen hoffentlich anders ist, als bei den anderen Menschen, ist die Art, wie wir mit Leid, Trauer, Krankheit, Behinderung und Tod umgehen und hindurchkommen und sie bestehen. Warum das anders ist, anders sein kann liegt daran, dass nichts davon ewig bleibt, sondern durch das Kreuz unseres Herrn überwunden ist. Alles, was uns schwer aufliegt und quält, ist immer nur auf Zeit! Außerdem sind wir nie allein, wenn wir unser Kreuz tragen. Der, dessen Zeichen das Kreuz ist, trägt mit uns.

Zu unserem Bemühen, uns eine heile Welt innerhalb unserer Mauern zu schaffen, ist das zu sagen: Es ist verständlich, denn wir brauchen auch eine gewisse Sicherheit und Geborgenheit in einer gefälligen und vertrauten Umgebung. Das ist aber nur die eine Seite, der eine Pol unseres Lebens als Christen. Die andere Seite, der andere Pol ist das, was draußen geschieht, vor dem Tor, dort, wo Jesus gelitten hat und wohin er uns heute ruft: Zu den leidenden Mitmenschen in unserer Nähe, den Armen und Hungernden rings um die Erde, den geschundenen Menschen in den Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt, den Flüchtlinge, die bei uns eine Zuflucht suchen... Allen können wir nicht helfen. Das verlangt auch keiner von uns. Aber an der einen oder anderen Stelle können wir Hilfe geben - nach unseren Möglichkeiten und Kräften. Die kleine heile Welt innerhalb unserer Mauern mag da für uns zu einem Ort werden, an dem wir immer wieder neue Kraft finden, "hinauszugehen" zu Jesus und die Aufgaben anzupacken, die er "draußen" für uns hat.

Zuletzt ist auch noch etwas zu unserem Drang zur Vereinzelung zu sagen und zur zunehmenden Individualisierung, der auch wir Christinnen und Christen immer mehr nachgeben. Sehr viel Leid, sehr viel Kälte zwischen den Menschen entsteht dadurch, dass wir immer stärker um uns selbst kreisen und "unser Ding" machen. Ist es aber nicht so, dass uns manchmal - gerade wenn wir schon ein wenig älter sind - die Sehnsucht nach der Zeit überfällt, in der wir noch mehr miteinander und füreinander gelebt haben? Das war eine ärmere Zeit, in der nicht jeder alles hatte oder haben konnte, wenn er wollte. Da ist einer, der ein Werkzeug brauchte, noch hinübergegangen zum Nachbarn und hat es sich dort ausgeliehen. Und wenn das Mehl ausgegangen war, dann ging man zur Nachbarin und hat sie gebeten, uns auszuhelfen. Wer früh schon ein Telefon hatte, war für andere selbstverständliche Anlaufstelle, wenn jemand einen Anruf zu erledigen hatte. Und wer einen der ersten Fernseher besaß, der hatte manchmal die ganze Nachbarschaft zu Besuch.

Zugegeben: Das ist Nostalgie. Dahin wollten wir auch gar nicht zurück. Aber als Christenmenschen sind wir nicht für uns selbst und unsere Bedürfnisse und Interessen geschaffen, sondern eins für den anderen, einer für die Mitmenschen, alle für die Gemeinschaft mit allen. Wir sind alle Kinder Gottes durch unseren Bruder Jesus Christus. Er ist für uns alle in die Welt gekommen, um uns am Kreuz von Sünde, Tod und Teufel zu befreien. Er ruft uns alle hinaus vor das Tor, um seine Schmach zu tragen und füreinander da zu sein. Und er will uns alle in die zukünftige, bleibende Stadt, das himmlische Jerusalem führen, um dort in Ewigkeit zu leben. AMEN