Predigt zum Sonntag "Invokavit" - 9.3.2014

Textlesung: Jak. 1, 12 - 18

Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet; denn nachdem er bewährt ist, wird er die Krone des Lebens empfangen, die Gott verheißen hat denen, die ihn lieb haben. Niemand sage, wenn er versucht wird, dass er von Gott versucht werde. Denn Gott kann nicht versucht werden zum Bösen, und er selbst versucht niemand. Sondern ein jeder, der versucht wird, wird von seinen eigenen Begierden gereizt und gelockt. Danach, wenn die Begierde empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod. Irrt euch nicht, meine lieben Brüder. Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts, bei dem keine Veränderung ist noch Wechsel des Lichts und der Finsternis. Er hat uns geboren nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit, damit wir Erstlinge seiner Geschöpfe seien.

Liebe Gemeinde!

Wir Predigerinnen und Prediger fragen uns schon immer wieder einmal, ob ein biblischer Text die Menschen unserer Tage wirklich noch erreicht. Besonders was die jungen Leute angeht, die Kinder unserer Gemeinde und die Konfirmanden, müssen wir oft zugeben: Nein, diese Verse sprechen nicht mit ihnen. Oder: Dieses Thema ist einfach nicht interessant für sie.

Aber auch wenn wir an die erwachsene Gemeinde denken, an Christen im mittleren Alter oder an die ganz Alten fällt es uns oft schwer, einen Anknüpfungspunkt im Leben der Menschen zu finden. So ist es auch heute bei diesen Versen aus dem Jakobusbrief. Eine Geschichte wie die vom Barmherzigen Samariter macht es uns da doch leichter, die Aufmerksamkeit der PredigthörerInnen zu finden. Oder eines der Gleichnisse Jesu... Das trifft bei den meisten Menschen mitten ins Herz, weil es mitten im "richtigen Leben" spielt und sozusagen Fleisch und Blut an sich hat.

Ganz anders ist es bei der Frage, die Jakobus in seinem Brief behandelt: Ob wir wohl von Gott in Versuchungen hineingeführt werden oder ob die Versuchungen aus uns selbst kommen? - Ich stelle mir einmal ein Gespräch über diese Frage zwischen zwei Menschen vor, die sich gerade auf der Straße getroffen haben. Der eine will vom anderen wissen: "Du, wenn uns die Begierden locken und reizen, wenn wir in Versuchung geraten, kommt das dann von Gott oder aus der Tiefe unseres menschlichen Wesens?" Können Sie sich den Gesichtsausdruck des so Befragten vorstellen? - Ich glaube, Sie haben verstanden, was ich sagen will. Ein solches Gespräch könnte vielleicht zwischen zwei Theologen stattfinden, die gerade an der Predigt über den Text arbeiten, der uns heute zu bedenken vorgeschlagen ist, aber nicht zwischen zwei "normalen" Christenmenschen. Und mit dem Gedanken, dieses Thema könnte im Kindergottesdienst oder Konfirmandenunterricht behandelt werden, ist unsere Phantasie sicher ganz und gar überfordert. - Was also tun? Legen wir den Jakobustext jetzt beiseite und suchen uns eine schöne biblische Geschichte oder ein Gleichnis Jesu aus, das wir heute näher betrachten? - Fast wollte ich mich schon auf diese Suche begeben, da ist mir etwas klar geworden:

Die Frage, woher die Versuchungen kommen, ist wohl weniger ein Thema für akademische Gespräche und theoretische Unterhaltungen, sondern vielmehr eine ganz praktische und ganz persönliche Anfrage an uns selbst. Darüber sprechen wir im Allgemeinen nicht mit unseren Mitmenschen, sondern das spricht mit uns aus unserem Innern, aus dem Bereich unserer Seele, in dem unsere Werte aufbewahrt sind, unser Glaube, unser Charakter und was uns wichtig ist im Leben und im Sterben... Aber bevor das jetzt schon wieder theoretisch wird, will ich ein paar ganz praktische Beispiele dafür geben, wie und auf welche Weise wir in ganz unterschiedlichem Lebensalter mit dem Thema "Versuchung" in Berührung kommen:

- Ein Kind, vielleicht acht Jahre alt, weiß schon ganz genau, dass es nur an sich nehmen darf, was ihm gehört. Als es vorgestern in der Schulpause noch einmal in den Klassenraum geht, weil es sein Pausenbrot vergessen hat, sieht es auf einem der Schülertische einen Füller liegen, der sehr teuer ist und den es selbst so gern gehabt hätte. Der Kampf in seinem Innern ist kurz, dann greift das Kind zu. Danach holt es sein Schulbrot uns geht wieder hinaus auf den Hof. Den Füller hat es in die Hosentasche gesteckt, in die Tasche mit dem Reißverschluss!

Als das Kind, dem der Füller gehört, zum Lehrer geht und der Lehrer alle Kinder fragt, ob jemand wüsste, wo der Füller geblieben ist, bleibt das Kind stumm. Aber es beginnt nachzudenken. Und es spürt, dass es nicht richtig war, was es getan hat. Aber schon sind auch die Ausflüchte da: Man soll einen so wertvollen Füller ja auch nicht herumliegen lassen. Wenn er weggenommen wird, darf man sich nicht wundern. Das verleitet ja geradezu zum Diebstahl. Andere hätten das auch getan.

Das Kind hat sich - auch wenn es das sicher nicht so ausdrücken würde - für diese Antwort entschieden: Die Versuchung zum Diebstahl war zu groß. Der Mitschüler ist selber schuld, wenn ich seinen Füller genommen habe. - Aber ganz tief drinnen hat das Kind doch gefühlt, dass es falsch war, was es getan hat. Und Freude an dem gestohlenen Füller hat es auch nicht gehabt.

- Im Alter unserer Konfirmanden sind heute fast alle Mitglieder bei einem oder mehreren der so genannten "sozialen Netzwerke". Ein Mädchen aus einer Konfirmandengruppe, wir nennen sie einmal Nicole, hat mitbekommen, dass eine andere aus der Gruppe, Katja, auf einer der Internetseiten des sozialen Netzwerks gemobbt wird. Immer wieder wird sie beschimpft und mit übelsten Ausdrücken bezeichnet. Nicole hatte zwar bisher nicht viel mit Katja zu tun, weil die auf eine andere Schule geht, aber es macht sie doch traurig, wie Katja sich in der Konfirmandengruppe immer mehr zurückzieht. Auch bekommt sie immer wieder mit, wie die anderen Konfirmanden hinter Katjas Rücken hämische Bemerkungen machen und sich anscheinend köstlich darüber amüsieren, wie gemein man im Netz mit dem Mädchen umgeht.

Nicole hat lange überlegt, was sie tun soll. Sicher hätte sie sich sagen können, dass sie Katja ja gar nicht besonders gut kennt und sie das, was ihr geschieht, doch auch gar nichts angeht. Aber vor Tagen ist sie zu Katja hingegangen und hat ihr gesagt, wie unmöglich sie das findet, wie man ihr gerade mitspielt. Katja war sehr dankbar, dass jemand ihr einmal den Rücken gestärkt hat und die beiden Mädchen haben lange miteinander gesprochen. Nicole hat hinterher gedacht, dass es sicher richtig gewesen ist, Katja beizustehen.

- Wir Erwachsenen, erleben sicher ganz andere Versuchungen: Vielleicht geht uns durch den Kopf, ob wir bei der nächsten Steuererklärung wirklich wieder all unsere Einkünfte offenlegen sollten? Oder wir denken gerade darüber nach, ob wir nicht einmal mit den jungen Nachbarn reden müssten, die so unmöglich mit der Mutter des Mannes umgehen, die bei ihnen wohnt. Nur böse Worte haben sie für die alte Dame, dabei gehört ihr doch eigentlich das Haus.

- Die Älteren und Alten aus der Gemeinde sind noch einmal mit anderen aber durchaus nicht weniger oder geringeren Versuchungen konfrontiert: Sie enstehen vielleicht, wenn wir spüren, dass es nicht richtig ist, ohne Dankbarkeit und als selbstverständlich hinzunehmen, was Menschen für uns tun, wenn sie täglich um uns sind, uns mit Essen versorgen oder uns pflegen und dabei auf manches verzichten. Oder wenn wir uns am Lebensabend denken - auch wo es schwer fällt - dass es gut wäre, mit diesem oder jenem aus der Verwandt- oder Bekanntschaft Frieden zu machen in einem Jahre, vielleicht Jahrzehnte schwelenden Streit.

Immer ist es bei Versuchungen, dass wir uns entscheiden müssen, immer gibt es zwei Möglichkeiten: Wir können nach Gründen dafür suchen und werden sie reichlich finden, das zu tun, was uns leichter fällt, was weniger Überwindung kostet und was - leider - wohl auch die meisten Menschen tun würden: Bei der Steuererklärung zu tricksen, nicht mit den jungen Nachbarn über ihre Art zu reden, mit der alten Mutter umzugehen, beharrlich weiter glauben, man hätte Dankbarkeit doch nicht nötig und was den alten Streit angeht, müsse doch wohl der auf der anderen Seite den ersten Schritt machen! - Immer gibt es aber auch die zweite Möglichkeit: Dass wir darauf hören, was eine andere innere Stimme uns sagt. Sie spricht meistens leiser als die erste, aber wir ahnen oder wissen sogar sicher - es wäre das Richtige wenn wir tun würden, was sie uns zu tun rät: Wahrhaftig bei der Steuererklärung - und die Tricks denen überlassen, deren Namen dann auf dem Titelblatt der Zeitung mit den vier großen Buchstaben erscheint. Und wir werden mit den jungen Nachbarn über die Art im Umgang mit der alten Mutter reden und wir besinnen uns endlich einmal auf die Dankbarkeit, wie sie die Menschen aus unserer Umgebung mehr als verdient haben. Schließlich machen wir auch selbst den ersten Schritt, der dazu führen wird, den alten Streit aus der Welt zu schaffen.

Es wird Sie jetzt nicht wundern, wenn ich diese zweite Stimme die Stimme unseres Gewissens nenne. Wir dürfen auch sagen, sie ist die Stimme Gottes.
Liebe Gemeinde, wir kehren noch einmal kurz zurück zum Gespräch zwischen den zwei Menschen, die sich gerade auf der Straße getroffen haben. Der eine wollte vom anderen wissen: "Du, wenn uns die Begierden locken und reizen, wenn wir in Versuchung geraten, kommt das dann von Gott oder aus der Tiefe unseres menschlichen Wesens?"

Wir haben schon festgestellt, dass ein solches Gespräch in der Wirklichkeit kaum stattfinden wird. Denn die enthaltene Frage wird sich wohl immer in unserem Inneren stellen. Aber ich denke, wir können die Frage jetzt beantworten: Nicht Gott führt uns in Versuchung. Die Versuchung kommt aus uns selbst. Wir müssen uns dann entscheiden, auf welche Stimme in unserem Inneren wir hören wollen. Die Stimme unseres Gewissens ist zwar leiser als die andere, aber sie hat ein sicheres Kennzeichen: Wir können sie daran erkennen, dass sie von uns das verlangt, was zu erfüllen uns meist schwerer fällt. Mit diesem Kennzeichen hilft uns Gott bei der Entscheidung. AMEN