Predigt zum Sonntag "Estomihi" - 2.3.2014

Textlesung: Jes. 58, 1 - 9

Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden! Sie suchen mich täglich und begehren, meine Wege zu wissen, als wären sie ein Volk, das die Gerechtigkeit schon getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte. Sie fordern von mir Recht, sie begehren, dass Gott sich nahe. "Warum fasten wir, und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib, und du willst's nicht wissen?" - Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter. Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll. Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit, wenn ein Mensch seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der HERR Wohlgefallen hat? Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen, und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest.

Liebe Gemeinde!

Der Text aus dem Jesajabuch, den wir heute bedenken sollen, ist so lang, dass wir am Ende wohl kaum noch wissen, was wir am Anfang gehört haben. Und wenn wir es noch im Kopf behalten haben, dann wissen wir nicht, wer gemeint ist. Darum ist es sicher gut, ich lese den ersten Vers jetzt noch einmal vor: "Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden!" Wer soll da "getrost" rufen? ("Getrost" heißt übrigens mit voller Kraft und ohne falsche Rücksicht.) Hier ist der Prophet selbst angesprochen, also Jesaja. Aber ich gehe noch weiter: Auch die heutigen Predigerinnen und Prediger dieser Worte Gottes sind gemeint! Also auch ich! Aber wenn Sie nun meinen, das wäre ein Vergnügen, dann liegen Sie falsch. Es ist nicht schön, jemanden seine Sünden und seine Abtrünnigkeit vorzuhalten. Außerdem gilt hier wie immer: Die Predigerin oder der Prediger steht mit unter dem Wort. Ich bin also genauso angesprochen wie jede und jeder von Ihnen.

Aber was haben wir uns denn eigentlich zu Schulden kommen lassen? Hier hören wir es: "Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter. Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein." Wenn Sie jetzt denken, aber wir fasten doch gar nicht und wir hatten es auch für die Passionszeit, die in drei Tagen beginnt, eigentlich nicht vor... Wenn Sie so denken, dann müssen wir für Fasten nur etwas anderes einsetzen, das wir in der Absicht tun, Gott für uns einzunehmen und freundlich zu stimmen: Unseren Kirchgang zum Beispiel oder dass wir zweimal am Tag beten. Vielleicht auch unsere Spende für Brot für die Welt oder eine andere karitative Organisation. Und sicher gibt es noch andere Dinge, die wir tun, die wir für Gott wohlgefällig halten. Dabei wollen wir jetzt nicht protestieren, wir täten das doch gar nicht, um Gott damit zu beeindrucken. Und wenn wir davon hören, wir bedrückten unsere Arbeiter oder würden hadern und mit gottloser Faust dreinschlagen, dann wollen wir uns auch nicht damit herausreden, solche Dinge könnte bei uns keiner je beobachten. Es ist - auch meiner eigenen Erfahrung nach - eine Tatsache, dass wir auf der einen Seite gern versuchen, Gott mit unserem Tun und Lassen positiv zu beeinflussen, auf der anderen Seite ein Verhalten an den Tag legen, das Gott sicher nicht gefällt. Und genau darum geht es: Unser Verhalten ist nicht stimmig: Manches, was wir für Gott tun, passt nicht zu dem, was Menschen an uns erfahren.

Wenn wir weiter auf die Worte des Jesaja hören, dann wird uns klar, was der Sinn des Fastens oder besser: der Sinn all unseres Tuns für Gott sein soll: "Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll. Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit...?" Ich glaube, so langsam ahnen wir, worum es Gott geht. Wir denken bei allen Werken und Taten für Gott eben nur an Gott: Wie das bei ihm ankommt? Ob er Gefallen daran hat? Ob es bei ihm Eindruck macht und ihn für uns einnimmt? ER aber will etwas anderes: "Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: [...] Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn!" Unsere Mitmenschen sollen etwas von unserem "Fasten" haben. Der Gedanke daran, was sie brauchen, soll uns bei unseren guten Taten leiten. Es ist ja doch so: Gott hat unser Fasten nicht nötig. Es gibt nichts, was wir ihm geben könnten, was nicht zuvor von ihm stammt. Alles, was wir uns auferlegen, was wir an Gutem tun, uns vom Mund absparen und womit sonst wir uns bei Gott beliebt machen wollen, will Gott nicht für sich, sondern für unseren darbenden, Not leidenden Nächsten. Aber das geht noch viel weiter. Hier sind nicht nur materielle Güter gemeint. Unser Verhältnis zu den Mitmenschen soll durch unser "Fasten" sozusagen ganz umfassend in Ordnung kommen. So spricht Gott: "Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!"

Auch bei diesen Dingen möchten wir sicher gleich wieder protestieren: So etwas tun wir doch nicht! So hart darf niemand uns gegenüber reden. Wir sind doch keine Unmenschen!

Mir fällt dazu ein, wie oft wir mit unseren Vorurteilen andere Menschen festlegen und dabei "mit Unrecht binden": "Der und der ist von Grund auf böse. Der war schon als Kind so. Der ändert sich auch nie. Und wie soll denn sein Sohn anders sein? Der Apfel fällt nunmal nicht weit vom Stamm." - Ist das nicht wie ein Joch, das wir einem Menschen auf die Schulter legen? Wie soll er sich denn ändern, wenn wir ihn nicht frei geben aus unserem Vorurteil? Und dass er sich durch unsere feste Meinung von ihm nicht ändern kann, bestätigt dann wieder unsere Meinung.

Hier könnte nur eins helfen. Wir müssen unser Vorurteil beiseite tun. Wir müssen auf diese Worte hören: "Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!"

Manchmal sind es wohl auch die anderen, die eine bestimmte Meinung von den Mitmenschen haben: Da werden wir Zeuge, wie jemand sagt: "Diese Migranten aus Bulgarien und Rumänien plündern unsere Sozialkassen!" Oder: "Die Leute aus dieser oder jener Straße sind doch alle arbeitsscheu!" Wir spüren dann und wir wissen es, dass solches Reden nicht der Wirklichkeit und nicht der Wahrheit entspricht. Auch haben wir dann das sichere Gefühl, dass wir etwas dagegen einwenden müssten. Wir würden damit helfen, dass ein Stück des Jochs von der Schulter der Menschen genommen würde, die hier zu Unrecht pauschal verurteilt werden. Wir müssten denen, die so reden und damit andere verurteilen, das weitersagen, was der Prophet sagt - selbstverständlich mit unseren Worten: "Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast!" Nur, ob wir das fertigbringen?

Liebe Gemeinde, wir haben uns jetzt so viele harte Worte sagen lassen, die uns nachdenklich gemacht und nicht erfreut haben. Wir wollen jetzt auf die Verheißungen hören, die uns auch gelten: "Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen." Wem das zu poetisch klingt und wer es ein wenig mehr in unserer Sprache haben möchte, dem wird es noch einmal so gesagt: "Dann wirst du rufen, und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest." Noch einfacher und verständlicher können wir es sicher so ausdrücken: Wir bekommen eine gute Beziehung zu unserem Gott. Wir sind ihm nah. Er sieht nach uns und hört unser Gebet. - Aber das tritt nicht ein, weil wir ihm unser Fasten, unsere guten Taten und Werke dargebracht haben. Es kommt nicht etwa als ein Lohn zu uns, den wir verdient hätten, weil wir die Not unserer Mitmenschen gelindert oder unsere Vorurteile abgetan hätten. Es stellt sich ein, nicht weil Gott es entgelten müsste, nicht weil wir so gut waren, sondern als Geschenk, weil Gott ein gütiger Gott ist, der gerne gibt.

Wir merken es immer wieder: Es ist schwierig, Gottes Güte nicht als eine Antwort auf unsere Werke und guten Taten zu sehen und zu verstehen. Aber gerade für uns evangelische Christen ist der Gedanke doch vertraut: Nicht unser Verdienst, sondern das Verdienst unseres Herrn öffnet uns die Tür zur Vergebung und zum Himmel. - - - Vielleicht fangen wir bei unserem "Fasten", bei unserem Tun des Guten ganz unbefangen an dieser Stelle an: "Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn!"

So Gott will, werden wir dann - nicht als Lohn, sondern als Geschenk - seine Güte erleben: "Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen." AMEN