Predigt zum Sonntag "Septuagesimae" - 27.1.2013

Textlesung: Mt. 9, 9 - 13

Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): "Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer." Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.

Liebe Gemeinde!

Nicht nur die Pharisäer damals, auch wir heute ärgern uns an dieser Geschichte! Matthäus, den Jesus hier zu einem seiner Jünger beruft, saß nicht nur zufällig am Zoll, nein, er war selbst ein Zöllner. Also war er einer, der den Menschen, die durch das Stadttor gingen, meist mehr Geld abnahm, als richtig gewesen wäre. Und was richtig war, das bestimmten zur Zeit Jesu die Römer, mit denen die Zöllner wie selbstverständlich zusammenarbeiteten - für einen rechtschaffenen Juden ein unmögliches, ja, abstoßendes Verhalten. Deshalb waren die Zöllner auch beim Volk verachtet. Sie standen im Ansehen auf derselben Stufe wie die ersten Besucher an der Krippe Jesu, die Hirten. Womit könnten wir diese Berufung in unserer Zeit vergleichen?

Vielleicht damit: Stellen wir uns vor - nur einen Augenblick! - in den Kirchenvorstand einer stadtnahen Kirchengemeinde soll ein Investmentbanker berufen werden, von dem jeder in der Gemeinde weiß: Er hat schon unzählige Menschen mit fragwürdigen Termingeschäften oder faulen Krediten um ihr Erspartes gebracht. Er hat für seine Bank Wetten auf Rohstoff- und Lebensmittelpreise verkauft und hunderte von Schrottimmobilien zu Mondpreisen an den Mann und die Frau gebracht. Mit einem Wort: Er ist ein notorischer Betrüger, der nur immer seinen eigenen geldwerten Vorteil gesucht hat. - Was wäre in dieser Gemeinde wohl los, wenn das Vorhaben des Kirchenvorstands ruchbar wird?

Oder vergleichen wir die Berufung des Matthäus damit: Bei der Jahreshauptversammlung in einem Sportverein wird eine Frau als Kassenwartin vorgeschlagen, von der alle wissen - nicht nur im Verein, nein, in der ganzen Gemeinde - dass sie als Kassiererin im Supermarkt gearbeitet hat und dort, nach einem Griff in die Kasse, fristlos entlassen worden ist. - Wie würde die Versammlung wohl reagieren, wenn dieser Vorschlag auch nur ernsthaft diskutiert werden sollte?

Mit ein wenig Fantasie fallen Ihnen ganz gewiss noch einige weitere Beispiele ein, in denen deutlich wird, dass nicht jeder, wenn wir seine Vorgeschichte kennen, sich für jedes Amt eignet. Wenn solchen Menschen dann doch das Amt anvertraut wird, ist es eben so, als würde man, wie es sprichwörtlich heißt, den Bock zum Gärtner machen. Aber genau das, wir wollen es jetzt aussprechen, hat Jesus damals getan. Daran haben die Pharisäer Anstoß genommen. Und uns heute ärgert es auch. - Aber es kommt ja noch schlimmer:

"Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern." Wir wissen, was die Tischgemeinschaft zur Zeit Jesu bedeutete: Mit wem man zu Tisch saß, der war eine Freundin, ein Freund. War der Gastgeber von höherem Rang, dann ehrte er die Menschen, die er an seinen Tisch eingeladen hatte. (Denken wir nur an die Geschichte vom großen Abendmahl (Lk.14,16ff), in der die Eingeladenen allerdings diese Ehre mit Füßen treten.) Niemals wäre es darum einem frommen Juden eingefallen, einen Zöllner oder einen anderen notorischen Sünder an seinen Tisch zu holen. Und hier ist auch noch von "vielen Zöllnern und Sündern" die Rede!

Liebe Gemeinde, ich denke, jetzt fragen wir uns schon, warum tut Jesus das? Warum beruft er einen Zöllner als seinen Jünger, also zu seinem Vertrauten? Und warum setzt er sich mit Zöllnern und Sündern an einen Tisch? Will er provozieren? Will er die Pharisäer damals und uns heute verärgern? Will er ihnen und uns einen Anstoß geben?

Was er nicht will ist, die Pharisäer oder uns ärgern. Eher das Gegenteil, denn er hat einmal gesagt: "Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert." (Mt.11,6) Aber provozieren will er schon und einen Anstoß geben, will er auch! Und beides werden wir vielleicht verstehen, wenn wir der Geschichte vom Zöllner Matthäus noch ein wenig tiefer nachdenken und dazu noch einmal auf Jesu Wort hören: "Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken." Ein Wort, an dem es sicher nichts zu rütteln und zu deuteln gibt. Ein Wort, das einfach wahr und richtig ist. - Aber wenden wir dieses Wort auf die Geschichte an, die wir heute hören:

Gewiss werden wir Matthäus, den Zöllner, zu den Starken zählen! Er war doch sicher reich! Er hatte ein großes Haus, viele Güter und Bedienstete. Er musste nicht wie ein Taglöhner fürchten, am nächsten Tag keine Arbeit mehr zu haben und seine Familie nicht mehr ernähren zu können. Er brauchte keine Zukunftsängste zu haben. Mit dem, was er auf der hohen Kante hatte, konnte er sicher bis zum Ende seiner Tage auskommen. Ja, ausdrücklich ja, so wird es gewesen sein. Jesus hat das wohl auch so gesehen. Und trotzdem hätte er den Zöllner Matthäus für einen Kranken, einen Schwachen gehalten! - Warum?

Drei Fragen, liebe Gemeinde: Würden Sie einem bekannt guten Psychiater oder einer erfahrenen Psychologin zutrauen, dass sie einem Menschen auf den ersten Blick ansehen, wie es seelisch um ihn steht, wenigstens ob er glücklich oder unglücklich ist? Ich denke, Sie sagen ja!

Und würden Sie einer Seelsorgerin, einem Seelsorger, die schon vielen Menschen geholfen haben, abnehmen, dass sie beurteilen können, ob ein Mensch - wie auch immer er sich äußerlich gibt - eher zu den Starken oder den Schwachen gehört? Ich glaube, ja!

Die dritte Frage haben sie bestimmt schon geahnt. Hier ist sie: Würden Sie von Jesus, unserem Herrn, nicht auch denken, dass er die Menschen durchschaut, wenn er sie nur ansieht. Und er durchschaut sie nach allem, was wir von ihm gehört haben und wissen, bis in die Tiefe ihrer Seele und bis in die Abgründe, die es da geben mag. Wenn er also einen Menschen wie den Zöllner Matthäus als seinen Jünger beruft, dann weiß er genau, was er tut. Er hat in das Verborgene seines Herzens geschaut und dort vielleicht die Angst gesehen, das Leben zu verfehlen. Er hat die Selbstzweifel und vielleicht den Selbsthass des Zöllners wahrgenommen und den Wunsch, herauszukommen aus diesem Leben am Rande der Gesellschaft, verachtet und geächtet von allen seinen Volksgenossen. Bei den anderen Zöllner und Sünder, mit denen Jesus Tischgemeinschaft hält, mag es anders liegen. Nicht alle werden sich als Jünger und Vertraute Jesu geeignet haben. Aber eins ist sicher: Jesus hat ihnen allen ins Herz gesehen! Und - noch wichtiger - er hat allen eine Chance gegeben, ihr bisheriges Leben zu überdenken, zu ändern und neu auszurichten.
"Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken." Es geht nicht darum, wie wir die Menschen meist sehr oberflächlich beurteilen, sondern darum, wie sie wirklich fühlen, wie gern sie herauskommen würden aus ihrem Leben, das für sie zum Gefängnis geworden ist und wie sehr sie sich nach einem neuen, anderen Leben sehnen. Und es geht darum, ob wir ihnen, so wie Jesus es getan hat, eine Chance geben, so zu werden, wie Gott sie gemeint hat.

Liebe Gemeinde, es kann sein, dass der Investmentbanker, der in den Kirchenvorstand berufen werden will, einen neuen Lebensweg beginnen möchte. Es kann sein, dass die ehemalige Kassiererin aus dem Supermarkt, als Kassenwartin des Vereins alles, was in ihrem Leben falsch war, hinter sich lassen will. Eins ist sicher: Jesus hätte den Beiden eine Chance gegeben. Wir sollten es ihm gleichtun!

Jesu Provokation, sein Anstoß heute heißt: Schaut genauer hin. Ihr müsst tiefer blicken. Und wo ihr das nicht könnt, gebt den Menschen eine Chance. Ihr wisst es doch selbst: Hinter der äußeren Fassade sieht es oft auch in euch ganz anders aus. Auch ihr wünscht euch doch, dass man euch nicht immer wieder auf das festlegt, wie und was ihr vielleicht bis heute oder früher einmal wart. Vielleicht will euer Mitmensch genau wie ihr aus der Rolle heraus, die er immer gespielt hat? Dazu braucht er, der so stark wirkt, eure Hilfe!
Nehmen wir uns Jesu Wort zu Herzen: "Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit. [...]Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten." AMEN