Predigt am 2. Christtag - 26.12.2009

Textlesung: Hebr. 1, 1 - 6

Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn, den er eingesetzt hat zum Erben über alles, durch den er auch die Welt gemacht hat. Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens und trägt alle Dinge mit seinem kräftigen Wort und hat vollbracht die Reinigung von den Sünden und hat sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe und ist so viel höher geworden als die Engel, wie der Name, den er ererbt hat, höher ist als ihr Name. Denn zu welchem Engel hat Gott jemals gesagt (Psalm 2,7): "Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt"? Und wiederum (2. Samuel 7,14): "Ich werde sein Vater sein, und er wird mein Sohn sein"? Und wenn er den Erstgeborenen wieder einführt in die Welt, spricht er (Psalm 97,7): "Und es sollen ihn alle Engel Gottes anbeten."

Liebe Gemeinde, in den Weihnachtstagen ist immer viel von Engeln die Rede. In der Weihnachtsgeschichte an Heiligabend. In vielen Liedern, die wir in dieser Zeit singen. Und auch der Predigttext, der uns für den zweiten Christentag vorgeschlagen ist, spricht von Engeln - und das gleich dreimal. Darum wollen wir heute einmal einen Engel selbst zu Wort kommen lassen. Mag sein, dass er uns auch zu den sperrigen und schwierigen Worten, die wir eben gehört haben, etwas sagen kann. Wir wollen uns einstimmen lassen vom Lied 36, der ersten Strophe:

Lied EG 36, 1

Lassen wir ihn also jetzt selbst reden, den Engel:

Ich singe sehr leise, liebe Christengemeinde. "... dieser Zeit, da vor Freud alle Engel singen" - so hieß es gerade im Lied. Aber so ganz stimmt das nicht und es hat eine Zeit gegeben, da habe ich überhaupt nicht mitgesungen, da habe ich mich strikt geweigert mitzusingen. Angefangen hat das alles in jener Nacht in Bethlehem, da war ich nämlich auch dabei.

Ich kann mich sehr gut daran erinnern; ich war damals noch ein recht junger Engel. Natürlich hatte ich mich in meine Aufgabe bei den himmlischen Heerscharen sorgfältig eingearbeitet; ich hatte alle heiligen Schriften aufs Genaueste studiert. So wusste ich also, dass der Messias, der Heiland der Welt, auf der Erde erwartet wurde. Schon vor einigen Jahrhunderten hatte der Prophet Jesaja diese Erwartung und Hoffnung ausgesprochen: "Uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende."

Natürlich kannte ich auch den Ausruf des Propheten Micha: "Und du, Bethlehem Ephratha, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei."

Obwohl ich also diese Prophetenworte kannte, so wie es dann gekommen ist, hatte ich mir das nicht vorgestellt. Welch freudige Aufbruchstimmung herrschte doch unter uns, als bekannt wurde, dass die Ankunft des Messias unmittelbar bevorstünde! - Aber was kam dann!

Ich war schon sehr irritiert, als wir nach Bethlehem geschickt wurden - in dieses abgelegene Nest, wo sich Ochs und Esel gute Nacht sagen. Als ich dann auch noch den Stall sah, traute ich meinen Augen nicht, und aller Gesang blieb mir im Halse stecken. Alle anderen Engel um mich herum sangen so schön ... noch schöner als bei den vielen Proben in der Vollversammlung der himmlischen Heerscharen: "Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens." - Ich jedoch blieb stumm. Ich sah das Kleine im Futtertrog und dachte: Du willst dieser Erde Frieden bringen? Du willst Friedefürst werden bei diesen Menschen, die dir nicht einmal eine einigermaßen würdige Geburt gönnen? Die deine schwangere Mutter 120 Kilometer haben zu Fuß gehen lassen?!

In meinem Kopf ging alles durcheinander. Im Grunde war mir von Anfang an unklar gewesen, warum Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erden, sich ausgerechnet dieses Volk ausgewählt hatte, um sich den Menschen bekannt zu machen. Ihm, der alle Länder und alle Völker geschaffen hat, wäre doch wohl nur das größte und mächtigste angemessen - wenn er nun schon bei einem einzigen Volk anfangen will. Aber dieses hier, die Juden ... weiß Gott keine irgendwie besonderen Menschen! Die Juden haben ganz oben auf ihrer Ahnentafel kein besonders strahlendes Paar aufzuweisen, nein, sie nennen einen sehr alten Mann und eine sehr alte Frau ihre Stammeltern, denen kaum jemand zugetraut hätte, überhaupt Nachkommen zu haben. - Ihr wisst, ich rede von Abraham und Sarah ...

Und dann das "Volk der Juden" später: Ständig gefährdet, von Gefangenschaft, Auflösung und Vernichtung bedroht, auch nicht besonders folgsam gegenüber Gott, im Gegenteil: wir Engel und Propheten hatten viel Arbeit mit diesem Volk! - Aus ihm sollte der Retter der Welt kommen?

Als mir das alles so wirr durch den Kopf ging, da merkte ein älterer Engel aus dem Rat der Heerscharen, dass ich nicht mitsang. Er kam zu mir und wollte wissen, warum ich so betrübt dreinschaue. Er fragte mich, warum ich denn nicht mitjubiliere. Da schüttete ich ihm mein Herz aus. -

"Ich will und kann dir deine Fragen nicht so einfach so beantworten, sagte er schließlich, "aber halte Augen, Ohren und Herz offen, dann wirst du vielleicht einmal selbst begreifen, dass gerade in einem so schwachen Volk das Wirken Gottes und die Liebe Gottes aufscheinen wie ein großes Licht." Aber zunächst stand ich erst einmal im Stall von Bethlehem und konnte nicht mitsingen.

In den folgenden Jahren hielt ich Augen, Ohren und Herz offen, aber was ich sah, hörte und spürte, verstärkte nur meine Sorge. Ich sah vor allem, wie die Menschen und ganze Völker sich bekämpften und misshandelten. Und jedesmal, wenn ich wieder das Lied der Engel hörte, dachte ich: Genau genommen müsste es anders heißen: "Ehre den Menschen auf Erden und Friede bei Gott in der Höhe!" Denn die Menschen ehrten hauptsächlich sich selber. Jeder wollte über den anderen hinausragen, den anderen übertreffen. Ich konnte oft nur noch den Kopf schütteln, wenn ich das Drängeln nach Posten, nach Macht und Einfluss sehen musste.

Geweint habe ich jedesmal, wenn ich den Mann wiedersah, der damals im Stall von Bethlehem geboren worden war. Nun zog er als Wanderprediger durch Palästina. Aber als Friedefürst aller Menschen konnte ich ihn nicht verstehen. Gewiss hatte er Anhänger - aber was für welche. Die meisten waren nicht besser und nicht einflussreicher als damals die Hirten, die zu seiner Krippe kamen. Sein Ende steht mir so deutlich wie sonst nichts vor Augen: Das Kreuz, an dem er starb. Ich dachte damals: Jetzt werde ich also nie mehr singen ... Auch seine Jüngerinnen und Jünger sangen nicht mehr. Doch dann erfuhren sie, dass ihr Messias - ihr Christus, wie sie ihn nun auf Griechisch nannten - lebt ... Sie trugen's herum und erzählten's weiter: Zuerst - weil es ja so unglaublich war - in sich überstürzenden Sätzen und Reden, dann ruhiger und ausführlicher. Und dann begannen sie wieder neu zu singen. Sie feierten den Sieg über den Tod, und sie begriffen auch jetzt erst das Leben des Jesus von Nazareth richtig. Sie feierten und besangen sein machtloses Leben, sie feierten, dass der Messias wahrhaftig auf die Erde gekommen war, sie feierten seine Geburt, durch die etwas von der gewaltlosen Macht Gottes erschienen war.

Sogar ich begann jetzt etwas zu begreifen von dem großen Plan Gottes: Dass zum Galgen auf Golgatha der Stall von Bethlehem einfach hinzugehört. Dass sich Krippe und Kreuz bei Gott reimen. Und so begann ich von da an wieder mitzusingen, ganz leise zuerst ... es war mehr ein Summen: "Ehre sei Gott in der Höhe ..." Doch dann schloss sich mein Mund wieder, ich konnte nicht weiter. Mir kam es nicht über die Lippen, vom Frieden auf Erden zu singen. Ich sah in jedem Jahrhundert neue Kriege, neuen Hass, Hunger, Leid und Neid. Und auch die, die sich mit ihren Lippen zu Jesus Christus bekannten, mischten kräftig mit. Aber das brauche ich Euch ja nicht zu erzählen. Ihr kennt die Nachrichten unserer Tage - wahrscheinlich besser als ich.

Warum also sollte ich singen von den Menschen "nach Gottes Wohlgefallen"? Wo sind sie denn? Herrscht denn nicht der Hass, will nicht einer den anderen ausstechen, an die Wand drücken ... Gefallen solche Menschen denn Gott? - So dachte ich lange Zeit. Dann aber habe ich noch etwas begriffen: Es sind nicht alle so. Ja, vielleicht sind die sogar in der Mehrheit, die sich sehnen nach Frieden, nach einer besseren Welt, einer Welt ohne Hunger, Krieg und Leid. An einem Weihnachtstag wie diesem heute ist mir das aufgegangen. Die Menschen wollen heraus aus ihrem eigenen Wesen, das immer wieder Gewalt tut, Leid hervorruft und Schmerz bereitet. Und dass es mit Gottes Hilfe geht, das wollte der Christus in der Krippe und am Kreuz zeigen. Indem einer, der Macht hat, auf alle Macht verzichtet. Indem einer, der ohne Schuld ist, für die Schuldigen stirbt. Indem einer, der Gott ist, Mensch wird - mit allen Konsequenzen. Das haben viele Menschen begriffen. Ich glaube, sie sind die, an denen Gott Wohlgefallen hat. Und die gibt es. Ich spüre das jedes Jahr ein bisschen deutlicher, meist an Weihnachten. Ich weiß nicht, wie viele es sind, aber ich möchte, dass sie die Hoffnung nicht aufgeben. Weil Gott selbst ja auch die Hoffnung auf die Welt noch nicht aufgegeben hat. Darum will ich heute wieder mitsingen im Chor der Heerscharen, auch wenn meine Stimme noch ein wenig ungeübt ist über die Jahrhunderte. Darum singe ich eben noch leise, aber doch so, dass ihr meine Hoffnung heraushören könnt. Und ihr, lasst euch die Hoffnung nicht nehmen! Niemals!

Ansage: Lied: 36, 1 - 4