Predigt zum 21. Sonntag nach Trinitatis - 25.10.2015

Textlesung: Mt. 5, 38 - 48

Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2. Mose 21,24): "Auge um Auge, Zahn um Zahn." Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.

Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel.

Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei.

Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.

Ihr habt gehört, dass gesagt ist (3. Mose 19,18): "Du sollst deinen Nächsten lieben" und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.

Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner?

Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?

Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.

Liebe Gemeinde!

Wir könnten jetzt diese Ratschläge Jesu zum rechten Verhalten seiner Jünger im Einzelnen durchgehen. Dabei würde aber eines schnell deutlich: Der Gedanke, der hinter diesen Ratschlägen steht, ist eigentlich immer derselbe: Wer Jesu Nachfolger sein will, muss mehr tun als das, was die tun, die nicht zu ihm gehören. Dass einer seine Freunde liebt, ist selbstverständlich. Jesu Leute aber sollen auch ihre Feinde lieben. Wenn sogar die Zöllner eine Meile mit dem gehen, der sie nötigt, dann ist es nicht genug, wenn der Jünger Jesu nur eine Meile mitgeht. Und wenn die Heiden dem, der mit ihnen rechtet, den Rock geben, dann müssen die Leute Jesu ihm mindestens auch den Mantel lassen. Was hinter allen diesen Ratschlägen Jesu steht ist also dies: Wer zu Jesus gehört, zeigt das damit, dass er weit über das hinausgeht, was andere auch an Liebe, Güte und Mitmenschlichkeit aufbringen. Das ist zusammengefasst in dem letzten Satz dieser Worte Jesu: " Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist." Was sich hier vielleicht so anhört, als könnte es kein Mensch erfüllen, wird, wenn wir es recht verstehen, ein Lebensmotto, dem wir durchaus nachkommen können.

In einer Erklärung zu dieser Forderung nach Vollkommenheit habe ich gelesen: "Vollkommen sein meint im Hebräischen, etwas mit ganzem, ungeteiltem Herzen sein bzw. tun, ganze Sache machen. Es geht nicht um die eigene Tadellosigkeit, sondern darum, 'ganz' für Gott und den Nächsten aufgeschlossen zu sein." (Stuttgarter Erklärungsbibel zu Mt.5,48)

Mir hat diese Erklärung gut gefallen. Und ich glaube fest, wir können dem folgen, was sie uns sagen will. Jetzt fehlen uns nur noch Beispiele, wie das heute, in unserer Zeit verwirklicht wird: "Etwas mit ganzem, ungeteiltem Herzen sein bzw. tun, ganze Sache machen und 'ganz' für Gott und den Nächsten aufgeschlossen zu sein." Denn die Beispiele aus dem Leben, die Jesus dafür gibt: einem Mitmenschen, der uns schlägt, "auch die andere Wange hinzuhalten" oder ihm "Rock und Mantel lassen" und statt "einer Meile zwei mit ihm zu gehen", begegnen uns in unseren Tagen nicht gerade häufig. Und selbst die Feindesliebe wird eher selten von uns gefordert. Darum will ich einmal ein paar Beispiele dafür geben, wo unser Herr heute von seinen Nachfolgern erwartet, dass sie "vollkommen", also "'mit ganzem, ungeteiltem Herzen für Gott und den Nächsten aufgeschlossen" sind und eben nicht nur eigene Interessen durchzusetzen versuchen:

- Ein Mann, der durchaus christlich eingestellt ist, tut viel für seine Mitmenschen. Er hilft, wo er kann. Wenn ein Nachbar ihn bittet, ihm einen Weg abzunehmen oder ihm ein Werkzeug zu leihen, würde er nie nein sagen. Regelmäßig spendet er für ein Kinderhilfswerk und für Brot für die Welt. In seiner Kirchengemeinde wird er immer wieder gern angesprochen, wenn irgendwo Not am Mann ist, wenn es darum geht, das Gemeindefest vorzubereiten oder mitzuhelfen, den Konfirmandenraum zu renovieren. Vor Jahren, als der Mann seine christliche Ader entdeckt hat, war das noch nicht so, da hat er sich noch ganz selbstverständlich für die Menschen und für die Sache eingesetzt. Aber inzwischen hat er ein klares Bewusstsein dafür entwickelt, dass er doch wesentlich mehr für andere tut als die übrigen Gemeindeglieder. Irgendwie hilft er seitdem nicht mehr so selbstverständlich. Er betont vielmehr lautstark, dass er diesem oder jenem geholfen, da und dort mitgearbeitet hat und für diesen oder jenen Zweck spendet - "und nicht wenig"! Man hat das Gefühl, was er tut, kommt nicht mehr so von Herzen wie früher. Anders gesagt: Sein Herz ist nicht mehr ungeteilt, es schlägt nicht mehr ganz für die anderen Menschen, sondern auch immer mehr für sich selbst. Er tut, was er tut inzwischen mehr für sich und sein Ansehen und nicht für Gott und seine Nächsten.

- Eine Frau, christlich erzogen, arbeitet im Büro eines mittleren Unternehmens. Am Anfang, als sie die Stelle angetreten hat, ging es ihr darum, das, was man von ihr erwartet hat, auch gut zu erfüllen. Sie half den Kolleginnen und Kollegen, wo sie nur konnte und stand auch den Anfängern in ihrer Abteilung immer mit Rat und Tat zur Seite. Sie hat das gern getan und gut. Und irgendwie hatte das auch mit ihrem Glauben zu tun, dass der Mensch, dort, wo Gott ihn hinstellt, auch hilfreich für andere sein und sein Bestes geben soll. Mit den Jahren aber kamen ihr ganz andere Gedanken in den Sinn. Immer mehr begann sie, sich mit den anderen Mitarbeitern im Büro des Unternehmens zu vergleichen. Konnte sie früher über die Schwächen der anderen hinwegsehen, so sagte sie sich jetzt, dass sie selbst doch deutlich besser war und mehr und effektiver für die Firma arbeitete. Das hat auch ihre Art des Umgangs mit den Kollegen und den Berufsanfängern stark beeinflusst. So freundlich und hilfsbereit wie früher war sie jetzt nicht mehr. So wie sie mit den anderen umging und wie sie dabei ihre Augenbrauen hochzog sagte schon - ohne dass sie ein Wort gesprochen hätte - wie sie über sie dachte. Ihr Herz war nicht mehr ungeteilt, es schlug nicht mehr ganz für die anderen Menschen, sondern immer mehr für sich selbst. Sie tut, was sie tut inzwischen mehr für sich und ihr Ansehen und nicht für Gott und ihre Nächsten.

Und noch so viele Menschen gibt es - und ich will dabei nur von denen reden, die sich Christen nennen und auch aus dem Glauben an Jesus Christus leben wollen - die haben einmal vorgehabt, auch in ihrem Beruf, in Alltag und Freizeit, ihre Mitmenschen und den Auftrag Gottes an ihnen in den Mittelpunkt zu stellen. Aber viele sind dem, was sie sich einmal vorgenommen hatten, nach und nach untreu geworden. Und verständlich ist das ja auch: Wer andere Menschen und was sie brauchen an die erste Stelle setzt, wer Gottes Willen und seinen Auftrag höher achtet, als den persönlichen Erfolg, die Karriere, das eigene Ansehen und den eigenen Vorteil, der fühlt sich schnell ungerecht behandelt vom Leben und vom Schicksal und letztlich von Gott. Und dann kann es schon sein, dass einer zu sich selbst spricht: Jetzt bin ich einmal dran und will einmal mehr an mich denken und weniger an die anderen. Und dann spricht er nicht nur so zu sich selbst, sondern handelt auch entsprechend. Und das gibt es nicht nur bei uns einfachen Leuten, sondern auch - ich meine manchmal besonders - bei den Politikern und Politikerinnen, bei Leuten, die in der Gesellschaft Verantwortung tragen und sogar bei der Kirche. Sie sind einmal angetreten, um denen, die sie gewählt haben oder die ihnen auf irgendeine Weise unterstellt und anvertraut worden sind, zu dienen, Schaden von ihnen abzuwenden, ihnen das Leben zu erleichtern und für sie zu sorgen. Wie schnell geht das oft, dass sie nur noch das Eigene suchen, die noch besser dotierte Stelle oder das höhere Amt anstreben und damit zeigen: Ihr Herz ist nicht mehr ungeteilt, es schlägt nicht mehr ganz für die Menschen, für die sie da sein sollen, sondern immer mehr für sich selbst. Sie tun, was sie tun mehr für sich und ihr Ansehen und nicht für Gott und ihre Nächsten. - - -

"Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist", sagt Jesus. Das bedeutet: Etwas mit ganzem, ungeteiltem Herzen sein bzw. tun, ganze Sache machen. Dabei geht es nicht um die eigene Tadellosigkeit, sondern darum, 'ganz' für Gott und den Nächsten aufgeschlossen zu sein.

Liebe Gemeinde, am Ende dieser Predigt und ihrer Gedanken könnten wir sagen: Die Zeit verändert halt die Menschen und sie hat das vielleicht auch bei uns getan. Wo wir einmal ganz für Gott und unsere Nächsten aufgeschlossen waren, sind wir das heute nicht mehr. Leider. Ja, das könnten wir sagen. Wir könnten aber auch der Stimme Jesu, die heute zu uns sprechen will, hören, ernst nehmen und in unserem Leben als Christinnen und Christen neu zu folgen versuchen: Uns besinnen, was uns einmal unser Glaube an diesen Herrn bedeutet hat, was uns einmal an Nächstenliebe beseelt hat und wie wir unseren Mitmenschen uneigennützig dienen und helfen wollten und das vielleicht ja auch einmal getan haben. Ich bin ganz sicher, das würde uns nicht nur Mühe, sondern auch eine unbändige Freude machen. Und auch unser himmlischer Vater würde sich an uns freuen. AMEN