Predigt am 20. Sonntag nach Trinitatis - 24.10.2004

Textlesung: 1. Thess. 4, 1 - 8

Weiter, liebe Brüder, bitten und ermahnen wir euch in dem Herrn Jesus, da ihr von uns empfangen habt, wie ihr leben sollt, um Gott zu gefallen, was ihr ja auch tut -, daß ihr darin immer vollkommener werdet. Denn ihr wisst, welche Gebote wir euch gegeben haben durch den Herrn Jesus. Denn das ist der Wille Gottes, eure Heiligung, daß ihr meidet die Unzucht und ein jeder von euch seine eigene Frau zu gewinnen suche in Heiligkeit und Ehrerbietung, nicht in gieriger Lust wie die Heiden, die von Gott nichts wissen. Niemand gehe zu weit und übervorteile seinen Bruder im Handel; denn der Herr ist ein Richter über das alles, wie wir euch schon früher gesagt und bezeugt haben. Denn Gott hat uns nicht berufen zur Unreinheit, sondern zur Heiligung. Wer das nun verachtet, der verachtet nicht Menschen, sondern Gott, der seinen heiligen Geist in euch gibt.

Liebe Gemeinde,

erst einmal wollen wir in der Einleitung dieser Verse aus "liebe Brüder", "liebe Geschwister" machen. Ich glaube nicht, dass wir bei allem, was Paulus uns heute sagt, die "Schwestern" ausnehmen können! Also: Wir alle, Frauen und Männer sollen "Gott gefallen" und darin "immer vollkommener werden". Wir sollen "die Unzucht meiden" und jeder und jede seine eigene Frau, ihren eigenen Mann "gewinnen." Und das sollen wir nicht in "gieriger Lust" tun, sondern in "Heiligkeit und Ehrerbietung". - Denken wir - bevor wir weiterlesen - dieser Mahnung einmal nach:

"Unzucht, gierige Lust" ... Gewiss betrifft das doch immer nur einige wenige, so würden wir sicher denken und sagen. Ich glaube das auch - wenn wir es ganz eng nehmen. Die noch Jüngeren unter uns, haben vielleicht noch nicht einmal eine Vorstellung, was hier denn gemeint ist. Und die Älteren und Alten? Da wird es naturgemäß nachgelassen haben mit diesen Dingen. Und trotzdem betrifft uns das alle! Es ist die Haltung, die im Hintergrund der "Unzucht" und der "gierigen Lust" steht, die bei uns allen mehr oder weniger stark ausgeprägt ist! Und wir alle haben darum guten Grund, uns zum Besseren zu verändern und uns vor Gott zu vervollkommnen. Aber ich will ganz deutlich sprechen: Ich meine die Lebenshaltung, aus der heraus ein Mensch immer zuerst an sich selbst denkt. Und ich kenne unzählige Beispiele, an denen das deutlich wird, dass wir alle von dieser Haltung angekränkelt sind - wie gesagt, nicht alle im gleichen Maß:

Ich denke an den ungezügelten Konsum vieler Menschen, die es sich leisten können. Was geben sie für Kleidung oder ein Auto aus. Scheinen sie nicht ganz und gar vergessen zu haben, dass die Sachen zum Anziehen zuallererst unsere Blöße bedecken und uns gegen Hitze oder Kälte schützen sollen? Und das Auto? Ist es nicht erst einmal ein Fortbewegungsmittel, mit dem wir von einem Ort zum anderen gelangen können, an den Arbeitsplatz zum Beispiel oder in den Urlaub? Und es genügt doch eigentlich schon einfache, praktische Kleidung und es reicht doch ein Wagen, der uns kostengünstig von hier nach dort bringt und Platz für uns, unsere Familie und das Gepäck bietet. Was steht also dahinter, wenn Menschen für Designerkleider oder -anzüge, für Luxuslimousinen oder sündhaft teure Sportwagen Unsummen hinlegen? Und scheinen diese Menschen nicht noch etwas anderes vergessen zu haben: Dass sie nämlich mit dem Geld, das sie für ihr völlig überzogenes Konsumieren verplempern, vielen wirklich Armen und Bedürftigen zu einem menschenwürdigen Leben - ja, oft zum nackten Überleben! - hätten helfen können!

Bevor wir nun zu uns sagen: So reich, dass ich so ungehemmt Geld für Sachen ausgeben kann, bin ich ja zum Glück nicht!, möchte ich uns alle ansprechen: Wenn irgendwo ein Vorteil für uns herausschaut durch Glück oder Zufall, treten wir dann zurück und lassen den vor, der es einfach nötiger hat, eher war und eigentlich dran ist? - Oder wenn ein Posten besetzt werden soll und wir könnten uns der Beziehungen bedienen, die wir nicht einmal aus eigenem Verdienst, sondern durch familiäre oder politische Verwandtschaft unserer Eltern oder unserer Freunde, haben, werden wir uns dann wirklich noch fragen, ob wir den Posten überhaupt ausfüllen können und ob ein anderer nicht mehr Fähigkeiten besitzt oder durch seine jahrelange Arbeit ein größeres Recht, die Stelle zu bekommen?

Schließlich zeigt sich diese Grundhaltung des Egoismus auch in ganz alltäglichen Situationen und Entscheidungen: Wer nimmt sich das kleinere Stück vom Kuchen, wobei man "Kuchen" ruhig auch im übertragenen Sinn verstehen kann. Wer meint nicht, was er selbst leistet wäre wichtiger und wesentlicher als das, was andere so fertig bringen? Wem fällt nicht immer wieder zuerst die eigene Person ein, wenn es um Güte, um Treue oder andere Tugenden, oder wenn es um irgendein sonstiges vorbildliches Verhalten geht? Wer käme auf den Gedanken, das eigene Gehalt oder die eigene Rente wären eigentlich viel zu hoch, wenn man sie an einem anderen Menschen misst, der mit der Hälfte auskommen muss. Werden wir nicht immer eine Erklärung dafür finden, die nicht von Ungerechtigkeit, sondern von berechtigten Unterschieden spricht?

Aber wir wollen uns noch mit den Gedanken beschäftigen, die Paulus uns weiter zumutet: Niemand gehe zu weit und übervorteile seinen Bruder im Handel... Und eine Zumutung ist das wirklich! War bisher doch nur von Verhaltensweisen die Rede, die mehr oder weniger zulassen und billigen, dass wir für uns mehr herausschlagen als die Mitmenschen, so geht es hier um das aktive und willentliche Tun, mit dem wir andere schädigen, herabsetzen und ihnen nehmen, was eigentlich ihnen zusteht. Aber wie leicht gehen wir "zu weit", wie es hier heißt! Wie schnell ist ein Wort heraus, das wir nicht hätten sagen sollen. Wie rasch haben wir in einem Alltagsgespräch eine Meinung über einen Mitmenschen geäußert, die dann Kreise zieht, weiter und weiter gegeben wird und manchmal einen Rufmord begründet? Weitergereicht wird ja meist nur, was wir gesagt haben (und das auch nicht immer wortgetreu!), aber nicht, dass wir es vielleicht aus dem Ärger heraus oder in einiger Aufregung geäußert haben. Das Ergebnis am Ende ist das selbe.

Und wir sollen niemanden "übervorteilen"! Ich frage sie, woher kommen solche Redensarten, wie man sie immer wieder hören kann, wenn die Eltern Haus und Besitz an die Kinder übergeben: "Habt ihr schon geteilt, oder seid ihr noch einig?" Warum könnten so viele Pfarrerinnen und Pfarrer, wenn sie sich nicht an ihre Schweigepflicht halten würden, von unglaublichen Wortwechseln und Szenen berichten, die sich im Zusammenhang mit einem Todesfall und den manchmal schon beim Trauergespräch ausgebrochenen Erbstreitigkeiten ergeben haben? Da wird beileibe nicht nur übervorteilt, da wird gnadenlos abgerechnet und übers Ohr gehauen und oft genug gehen die am Schluss leer aus, die für den Verstorbenen zu Lebzeiten am meisten getan, ihn vielleicht jahrelang aufopferungsvoll gepflegt und mit viel Zeit und Liebe betreut haben.

Gewiss, liebe Gemeinde, das ist Gott sei Dank nicht die Regel. Aber ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich keinen so großen Unterschied zwischen dem Verschwenden von zu viel Geld und dem aktiven Übervorteilen eines Mitmenschen sehe. Beides ist nicht richtig. Beides enthält anderen vor, was ihnen zukommt. Beides ist darum eines Christen nicht würdig, "denn Gott hat uns nicht berufen zur Unreinheit, sondern zur Heiligung", sagt Paulus. Und hier wollen wir uns jetzt endlich von dem abwenden, wie wir nicht sein sollen und hinwenden zu dem, was uns besser macht, unserer "Vollkommenheit" und "Heiligung" dient. Was sich hier so gewaltig anhört, dass wir wirklich "heilig" und "vollkommen" sein sollen, könnte in der kleinen Münze unseres Alltags vielleicht genau wie der "Egoismus" eine Lebenseinstellung sein oder werden: Es ist möglich, eben nicht immer nur zuerst an sich selbst zu denken! Es gibt viele Menschen, die das können! Gott sei Dank! Sie leben irgendwie gelassener als andere. Ich glaube, das kommt von daher, dass sie ihren Christenglauben nicht nur im Kopf und auf den Lippen haben, sondern im Herzen. Vielleicht kann man es so ausdrücken: Diese Menschen wissen und leben davon, dass sie durch Jesus Christus erlöst sind. Was sich hier so fromm anhört, bedeutet eigentlich "nur", dass diese Menschen all den Kampf und Krampf ums Eigene nicht mehr nötig haben. Warum soll man denn auch um Macht, Anerkennung, Geld oder Besitz in dieser Welt ringen, wenn man doch schon die Hoffnung und Aussicht und das Anrecht und Erbe einer ewigen Welt vor Augen hat und in Händen hält! Was soll ich denn noch mehr als das bekommen können mit all meiner Mühe, meiner Arbeit, meiner Schläue oder meiner List? Kann - so gesehen - aus einem Vorteil, den ich einem Mitmenschen abjage, wirklich ein Gewinn für mich werden? Kann die Vergeudung meines Eigentums für nichtigen, flüchtigen Kram wirklich meine Lebensfreude steigern - mehr als es das gütige und großherzige Austeilen und Verschenken an die könnte, denen es bitter nötig wäre?

Ich glaube, es ist dieses gute Gefühl, das uns erfüllt, wenn wir uns um solche "Vollkommenheit" und "Heiligung" bemühen, von der Paulus sagt: Wer das nun verachtet, der verachtet nicht Menschen, sondern Gott, der seinen heiligen Geist in euch gibt.

Gott schenke uns die Gelassenheit, die aus dem Glauben kommt. Er schenke uns die feste Hoffnung auf seine Ewigkeit und öffne uns damit heute Herz und Hände für unsere Mitmenschen. AMEN