Predigt am 10. Sonntag n. Trinitatis - 15.08.2004

Textlesung: Röm. 11, 25 - 32

Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist; und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob.

Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.«

Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.

Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

Liebe Gemeinde!

Das sind wirklich ganz heikle Worte, die Paulus hier spricht! "Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren ..." - "Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen ..." - "Gottlosigkeit von Jakob". Ich sage das ganz offen: Mir ist das im Blick auf die Geschichte des letzten Jahrhunderts und die Rolle, die wir Deutschen darin gespielt haben und wegen der gegenwärtigen politischen Lage im Nahen Osten einfach zu schwierig, dazu etwas Hilfreiches, Erhellendes, auch noch Erbauliches zu sagen. Jedenfalls soweit es Israel betrifft.

Aber das wissen wir ja auch: Alle Worte der Heiligen Schrift haben immer auch ganz persönlich mit uns zu tun. Immer sind auch wir gemeint. In allen Geschichten der Bibel, allen Gleichnissen des Neuen Testaments und in allen Briefen, die Paulus oder ein anderer an eine Gemeinde geschrieben hat, haben wir immer unsere Rolle. Und manchmal wollen wir sie "spielen", manchmal nicht. So ist es auch hier. Aber was könnten die Worte sein, die uns meinen?

Ich will jetzt auch das ganz offen sagen: Ich habe mich von zwei Wörtern besonders angesprochen gefühlt - und es war nicht angenehm, denn beide sind mit negativen Gedanken besetzt: Verstockung und Ungehorsam. - Könnte es sein, dass uns das Urteil trifft, wir wären vor dem Ruf des Evangeliums von Jesus Christus "verstockt"? Und trifft vielleicht auch das mehr oder weniger zu, dass wir "ungehorsam" gegenüber dem Willen Gottes waren und vielleicht noch sind?

Hören wir auf zwei Lebensgeschichten aus unseren Tagen. Ich erzähle sie so, dass möglichst viele von uns sich darin erkennen können, dass also keine besonderen Einzelheiten uns davon ablenken, dass hier vielleicht auch unsere Geschichte erzählt wird ...

Zuerst hören wir von einer Frau: Vor kurzem ist sie 60 Jahre alt geworden. Sie hat einen Mann und zwei erwachsene Kinder. Als junges Mädchen hat sie eine Lehre gemacht und bis zu ihrer Heirat auch in einem Beruf gearbeitet. Später aber war sie dann Hausfrau und ist es heute noch. Aber das ist eigentlich alles nebensächlich. Es geht ja um ihr Verhältnis zu Gott, um den Glauben und darum, was dieser Glaube im Leben für eine Rolle spielt ... Und da muss man sagen, dass die Sache mit Gott für diese Frau eigentlich immer mehr eine Randerscheinung war. Gewiss: Sie ist getauft, hat einen sogar recht guten Konfirmandenunterricht gehabt, ist konfirmiert, kirchlich getraut und die Kinder haben auch wieder die ganze "kirchliche Laufbahn" durchgangen. An höheren Festtagen war der Gottesdienstbesuch immer selbstverständlich und die Einstellung zur Kirche und zum Pfarrer war immer positiv, niemals hätte sie sich abfällig geäußert ... Nur: Innerlich, ganz tief im Herzen ist die Frau vom Glauben der Christen eher unberührt geblieben. Mit ihrem "wirklichen Leben", mit ihren täglichen Entscheidungen, mit der Erziehung ihrer Kinder und dem Verhältnis zu ihrem Mann und den anderen Menschen in ihrer Nähe hat das eigentlich nichts zu tun gehabt. Der Glaube, Jesus Christus, das Denken, Reden und Handeln in seinem Sinn waren immer mehr Teil der Kulisse ihres Lebens oder der Ausstattung für besondere Zeiten und Tage, aber nicht ihres Alltags, ihrer Arbeit und Freizeit, all ihrer Gedanken, nicht Inhalt und Mitte ihrer Jahre und nicht Freude und Halt ihrer Seele. - Und das eben nennt die Bibel, das nennt Paulus "Verstockung". Denn es kann - zumal für Christen - keinen anderen Weg und kein anderes Ziel für das Leben geben, als Jesus Christus zu hören, seinen Willen zu tun, hinter ihm her zu gehen und nach Kräften so zu reden und zu handeln, wie er es getan hätte. Der Glaube an diesen Herrn, bei dem es um Tod oder Auferstehung, um Zukunft oder Verlorenheit, um Ferne oder ewige Nähe zu Gott geht, ist niemals nur Staffage, nur ein bisschen religiöser Glanz für unsere Feste, kein Inventar des Herrgottswinkels unseres Lebens, in dem wir uns nur von Zeit zu Zeit einmal aufhalten, wenn Taufe oder Trauung ins Haus steht, wenn uns ungeahntes Glück beschert wird oder uns Zeiten der Not und der Krankheit nach Halt und Hilfe suchen lassen.

Dann will ich noch von einem jungen Mann erzählen, 25 Jahre alt ist er. Seit seiner Kindheit war es für ihn ganz klar, dass er einmal einen Beruf im sozialen Bereich wählen wird. Selbst hat er immer gesagt: Ich möchte später unbedingt mit Menschen zu tun haben. Das kam bei ihm sicher von daher, dass er in seiner Kirchengemeinde schon als gerade Konfirmierter in der Jugend- und Kinderarbeit engagiert war. Er hat das zwar nie ausgesprochen, aber er wusste damals, dass er für eine soziale Arbeit auch von Gott berufen war.

Dann aber - nach dem Abitur, bei dem er in Naturwissenschaften besonders gute Noten erhalten hatte - schien es ihm irgendwie zu schade, wenn er aus diesen guten Zensuren so gar nichts machen würde. Also hat er Chemie studiert und vor einiger Zeit sein Diplom abgelegt, auch das mit wirklich sehr gutem Erfolg. Eine Anstellung zu finden, war darum auch kein Problem für ihn. Jetzt arbeitet er seit einigen Monaten als Chemiker für einen großen Konzern. Er hat einen sicheren Arbeitsplatz, ein gutes Gehalt und gewiss auch einige Aufstiegsmöglichkeiten. Was er nicht hat - das ist ihm in den letzten Monaten immer klarer geworden - das sind Freude und Erfüllung an dem, was er schafft, Sinn und das Gefühl, etwas zu tun, das den Menschen nützt und von daher wesentlich und wichtig ist. Inzwischen ist ihm auch klar, warum das so kommen musste: Er hat nicht auf seine Berufung gehört. Er hat nicht das getan, was Gott von ihm haben wollte. Auch wenn ihm heute alle seine Angehörigen und Freunde sagen, er hätte das richtig gemacht und sein Erfolg im Studium und bei der Jobsuche wäre doch auch ein klarer Beweis dafür - er weiß es besser: Er hätte auf Gott hören sollen, hätte den Weg zu einem Beruf einschlagen müssen, bei dem er etwas mit und für Menschen tun kann ... Er war ungehorsam - und jetzt überlegt er, ob er alles hinschmeißen und noch einmal von vorn beginnen soll. Aber er fragt sich auch, ob er das durchhält und ob es jetzt nicht zu spät dafür ist.

Liebe Gemeinde, soweit diese Lebensbilder. Ich denke schon, dass wir alle wenigstens ein bisschen davon betroffen sind und sagen können: Ja, ich kenne auch Verstockung, ich bin auch schon ungehorsam gewesen und habe die Folgen tragen müssen. - Aber was machen wir jetzt damit?

Hören wir noch einmal auf die Worte des Paulus, wenn er von der Verstockung spricht: Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit ... Wir kennen den Erlöser! Und wir wissen auch, wie es geschehen kann, dass er uns los macht von aller Verstrickung in Sünde und Schuld, aus einem Leben, in dem nicht Gott die Mitte ist, sondern manches andere, das doch eigentlich geringe Bedeutung hat: Das Geld vielleicht, der Spass, die Zerstreuung bei seichten Vergnügen oder was sonst unsere Gedanken und unsere Aufmerksamkeit bindet.

Wenn wir durch Jesus Christus erlöst werden wollen, dann müssen wir wenigstens im Hören auf sein Wort, im Fragen danach, was er tun würde, im Gebet und in der Gemeinschaft mit den anderen Christen seine Nähe suchen und seinen Willen über uns gelten lassen. Wir denken ja vielleicht, Verstockung wäre etwas, das von Gott her über uns kommt, bei dem wir also gar nicht selbst beteiligt oder gar schuld wären ... Die Frau, von der ich vorhin erzählt habe, könnte aber auch von ganz anderen Erfahrungen berichten: Von klaren Hinweisen in ihrem Leben, doch einmal mehr auf Gott zu achten, ihn nicht in den Winkel zu drängen und nicht immer dem eigenen Wollen nachzugeben. Sie weiß, sie hätte mithelfen können, dass die Verstockung von ihr abfällt ... Bei uns ist es nicht anders.

Und was den Ungehorsam gegenüber Gott angeht: Auch da können wir uns ändern! Und hoffentlich ist das dann nicht so mühsam, wie es bei dem jungen Mann wäre, noch einmal alles anders zu machen, noch einmal beim ersten Schritt zu beginnen.

Gottes Verheißung hat es allemal, wenn wir uns besinnen, uns nicht länger treiben lassen und unseren Pfad ohne ihn gehen. Unser Herr hat uns ganz klare Weisung gegeben, was gut ist und was nicht, welcher Weg zum Ziel führt und welcher in die Irre ... Wenn wir uns in allem von seiner Liebe leiten lassen, dann haben wir einen guten Kompass in Händen. Dabei ist die Liebe zu den Mitmenschen gemeint, die nicht zuerst nach uns selbst fragt, sondern nach dem, was unser Nächster nötig hat. Jesus wollte uns ja nicht als Einzelkämpfer haben, er hat uns in die Gemeinschaft seiner Geschwister gerufen. - Das ist ein klarer Auftrag!

Aber auch Paulus gibt uns heute Gedanken mit, die uns helfen können, in der Spur Jesu ein anderes Leben anzufangen. Ich will seine Worte einmal so übertragen, dass wir ganz persönlich angesprochen sind: Im Blick auf die Erwählung seid ihr bei Gott geliebte Menschen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Und wenn ihr auch zuvor verstockt und Gott ungehorsam gewesen seid, jetzt habt ihr Barmherzigkeit erlangt und Gott hat sich über euch erbarmt!

Liebe Gemeinde, wenn das nicht heißt, dass Gottes Segen mit uns ist!? AMEN