Predigt zum Sonntag "Exaudi" - 23.05.2004

Liebe Gemeinde!

Wenn wir die Geschichte Jesu Christi und die seiner werdenden Kirche, wie sie uns in der Bibel erzählt wird, einmal ganz naiv betrachten, dann könnten wir sagen: Dieser Sonntag Exaudi ist ein ganz besonders finsterer Tag! An Himmelfahrt ist Christus aufgefahren zu seinem Vater. Den Heiligen Geist aber hat er seinen Jüngern und uns erst für Pfingsten verheißen. Wir müssten uns also ziemlich verlassen fühlen heute: Jesus ist nicht mehr bei uns, der Geist Gottes kommt erst noch zu uns - wir sind allein mit unserem Glauben, unserer Hoffnung, unseren Ängsten und unserer Sehnsucht... Wie gesagt: Naiv diese Sicht, aber sie passt doch recht gut zu den Gedanken des Paulus, wie sie uns für die Predigt dieses Sonntags zu hören und zu bedenken empfohlen sind:

Textlesung: Eph. 3, 14 - 21

Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater, der der rechte Vater ist über alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden, dass er euch Kraft gebe nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, stark zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen, dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne und ihr in der Liebe eingewurzelt und gegründet seid. So könnt ihr mit allen Heiligen begreifen, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist, auch die Liebe Christi erkennen, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet mit der ganzen Gottesfülle. Dem aber, der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt, dem sei Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus zu aller Zeit, von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

Auch Paulus spricht davon, dass etwas fehlt, etwas aussteht, dass wir erst noch gewinnen müssen, was uns verheißen ist. Und der Apostel bittet darum bei Gott - beugt seine Knie vor dem Vater für uns: "dass er uns Kraft gebe nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, stark zu werden durch seinen Geist" und dass "Glauben in unserem Herzen wohne und wir in der Liebe eingewurzelt und gegründet" sind und "wir erfüllt werden mit der ganzen Gottesfülle". Und das wäre wirklich ein wunderbares, herrliches Pfingstfest, wenn das geschähe! - Aber das sind so große Worte mit nur recht kleinem Gehalt an wirklichem, praktischen Leben... Was ist denn das: "Kraft nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit"? Wie erkennen wir sie, die "Breite und Länge und die Höhe und die Tiefe der Liebe Christi" und wie fühlt sie sich an, die "ganze Gottesfülle"? Wer von uns kann sich hier denn wirklich etwas vorstellen, wem treten da irgendwelche Bilder vor Augen?

Aber es gibt auch Hinweise in den Worten des Paulus, die wollen uns helfen, dass wir verstehen, was die Kraft Gottes, die Liebe Jesu und die Gottesfülle in unserem Leben sichtbar bewirken können. Und diese Hinweise sind doch auch plastisch und praktisch: Gott ist unser Vater, vor dem es angemessen ist, die Knie zu beugen. Wir sind Gottes Kinder, die seine Kraft empfangen, wie ein Geschenk, für das sie selbst nichts tun können. Gott macht uns stark durch seinen Geist. Er gibt die Erkenntnis, dass wir Christi Liebe bemessen können. Gott erfüllt uns mit seiner Fülle über all unser Bitten und Begreifen hinaus. Und schließlich gebührt Gott allein die Ehre in der Gemeinde in Zeit und Ewigkeit.

Aber zugegeben: Besonders bildhaft und greifbar ist das immer noch nicht. Vielleicht hilft uns eine Geschichte weiter?

Ein Mann hatte zwei Söhne. Beide hatte er gleich erzogen, zu freien Menschen und doch gottesfürchtig und fromm. Der Ältere von beiden aber geriet mehr zurückhaltend, allem Neuen stand er vorsichtig gegenüber, der Jüngere war ein Draufgänger, ein Macher, der vor keiner Aufgabe zurückschreckte. Beide lernten dasselbe Handwerk, machten sich selbständig und waren eine Reihe von Jahren geschäftlich ziemlich erfolgreich. Bis zu dem Tag, da die Wirtschaft stagnierte. Die Aufträge wurden weniger. Es reichte wohl noch zum Leben, aber die Zukunftsaussichten waren doch eher düster.

In dieser Zeit entwickelten sich die Dinge bei den beiden Brüdern sehr unterschiedlich: Der Ältere hatte seine Erziehung, den Glauben und das Gebet nie vergessen. In guten Tagen hatte er Gott gedankt und gelobt und alles, was das Leben und die Arbeit ihm bescherte, aus seinen Händen empfangen. Nun, da die Jahre der Fülle vorbei waren, blieb er bei seiner Übung: Er dankte Gott und war auch mit dem zufrieden, was er ihm jetzt schenkte.

Wie anders war das bei dem Jüngeren: Der berufliche Erfolg hatte in ihm die guten Einflüsse seiner Kindheit und Jugend erst in den Hintergrund treten lassen und dann gänzlich ausgelöscht. Gern gab er sich der Meinung hin, er verdanke alles nur sich selbst: Sein handwerkliches Können, sein kaufmännisches Geschick, seine Leistung, den Erfolg der fetten Jahre mit ihrem guten Verdienst... Die wirtschaftliche Flaute stürzte ihn in Selbstzweifel und Resignation. Für die schwierige Zeit fehlten ihm die Mittel, sie zu meistern: Gottvertrauen war keines mehr in ihm. An seinen eigenen Fähigkeiten war er irre geworden. Zu beten hatte er lange verlernt. Zwar bestand überhaupt kein Grund dazu, denn auch ihn und seine Familie ernährte sein Handwerk noch, aber der jüngere Bruder gab alles auf, verkaufte die Werkstatt weit unter Wert und reihte sich ein in die Schar derer, die in einem neuen Beruf ihr Glück finden wollten - und fand es doch nie mehr.

Hier ist die Geschichte zu Ende. Ziemlich drastisch, nicht wahr? Aber leider gibt es solche Geschichten - auch im Leben! - und sie können uns mit ihrer Wahrheit zeigen, worauf es ankommt, was für unser Leben wirklich wichtig ist, was wir unbedingt festhalten müssen und was wir getrost aufgeben dürfen...

Das Wichtigste ist dies: Dass wir bei Gott bleiben, ihm in allen Lebenslagen die Ehre geben. Ihn hinter unserem Glück wirken sehen, aber doch auch in schweren Tagen wissen: Er ist auch jetzt bei mir und er wird mir jetzt helfen und mich nicht verlassen. Und dabei werden wir sie erfahren, die "Liebe Jesu Christi", ihre Breite, Länge und Höhe. Wir werden erkennen, dass seine Liebe durchaus nicht nur dort zu finden ist, wo es uns gut geht, wo alles zum Besten steht und - wie in der Geschichte - das Handwerk goldenen Boden hat. Die Liebe Jesu erweist sich vielmehr erst da in ihrer ganzen Tiefe, wo sie uns auch in dunklen Stunden tröstet, begleitet und durch die schweren Tage hindurchführt. Und dann kann es geschehen, dass wir auch die "ganze Gottesfülle" begreifen und wir dahin kommen, dass wir Gott genau wie in den guten, auch in den für uns bösen Zeiten nicht verlieren, dass wir im Gebet bei ihm bleiben und im vertrauten Gespräch mit ihm Trost finden und die nötige Kraft, dass wir aushalten bis zu dem Tag, da es Gott gefällt, uns auch wieder schöne Stunden und gute Tage zu bereiten.

Gott wirklich die "Ehre geben" heißt also etwas anderes, als auf den hellen Lebenswegen an seiner Seite zu bleiben und dann zu ihm zu beten und ihn zu loben. Wirklich die "Ehre geben" wir ihm erst da, wo wir auch das schwere Geschick aus seinen Händen nehmen, auch die Pfade, die uns nicht gefallen, mit ihm gehen und keinen Augenblick daran zweifeln, dass wir auch in solchen Zeiten nicht gottverlassen, sondern von ihm geführt und bewahrt sind. Vor allem sollen wir es aufgeben, unser Leben machen, alles planen und im Griff behalten zu wollen. Gott "macht" unser Leben, schon in glücklichen Tagen, aber auch in den Zeiten, in denen uns der Mut und die Kraft ausgehen. So mag es für uns in unserem Leben auch schwere Erfahrungen geben, Zeiten ohne Gott an unserer Seite gibt es nicht.

So wollen wir zurückkehren zum Anfang dieser Predigt und zu dem Gedanken, ob das nicht ein besonders finsterer Tag wäre, heute, dieser Sonntag Exaudi zwischen Himmelfahrt und Pfingsten?

Und da müssen wir jetzt sagen: So naiv die Frage auch ist, selbst wenn es so wäre, wenn also heute ein besonders trüber Lebenstag ist in einer für uns sehr leidvollen Lebensphase, wenn wir heute Morgen mit den finstersten Erwartungen aufgestanden wären und wir uns wirklich fragen, wie soll das weitergehen, was wird noch für mich kommen an Sorgen und Tränen und werde ich das wohl alles ertragen können...? Selbst wenn es so wäre... Wir sollen das wissen: Gott ist bei uns. Nicht nur in den Schönwetterperioden unserer Jahre, nicht nur, wenn es uns gut geht und wir uns rundherum wohlfühlen, nicht einmal nur, wenn wir ihm auch angemessen danken und die Ehre geben, sondern an allen Tagen unseres Lebens. An denen, die uns in große Furcht führen, wenn wir uns am Morgen wünschen, es möchte schon Abend sein und wenn wir meinen, es ginge nicht mehr und wir wollten am liebsten das Geschenk des weiteren Lebens ausschlagen... Auch und gerade in solchen Zeiten ist Gott nah und umgibt uns mit der Liebe, die uns schützt und bewahrt, die uns ermutigt und zur Hoffnung zurückführt, die uns nicht verzweifeln, vielmehr geduldig warten lässt, bis es für uns wieder hell wird.

Am Sonntag Exaudi genau wie an allen Tagen unseres Lebens wird es uns an Gottes Hilfe und Begleitung, an seinem Schutz und seinem Segen nicht fehlen. Was uns fehlt, kann immer nur unser Glaube an einen Gott sein, der nicht nur auf den sonnigen Höhen unseres Lebens mit uns geht, sondern auch durch die tiefsten Täler des Leids, der Not, der Sorge und der Angst. Was uns am Sonntag Exaudi - zwischen Himmelfahrt und Pfingsten fehlt, kann nicht die Liebe Jesu Christi sein, nur unser Vertrauen in ihn und dass er uns so liebt und geliebt hat, dass er bereit war, sein Leben für uns zu opfern.

Ich wünsche uns solchen Glauben und solches Vertrauen in die Liebe Jesu Christi und in Gott dem allein die Ehre gebührt in der Gemeinde in Zeit und Ewigkeit. AMEN