Predigt zum 1. Adventssonntag - 30.11.2003

Textlesung: Röm. 13,8-12 (13-14)

Seid niemandem etwas schuldig, außer, dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt.

Denn was da gesagt ist (2. Mose 20,13-17): »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst (3. Mose 19,18): »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.«

Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung. Und das tut, weil ihr die Zeit erkennt, nämlich dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen. So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. Lasst uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Hader und Eifersucht; sondern zieht an den Herrn Jesus Christus und sorgt für den Leib nicht so, dass ihr den Begierden verfallt.

Liebe Gemeinde!

Vielleicht gestehen wir's uns nicht ein, aber wir haben heute Morgen alle eine große Sehnsucht mitgebracht: Wir möchten hier etwas finden und mitnehmen von den vorweihnachtlichen Gefühlen, wie wir sie aus unserer Kindheit kennen - denn heute ist erster Advent und in kaum vier Wochen ist es soweit: Heiligabend! Wenn wir uns einen Augenblick Zeit lassen, dann kann uns diese Sehnsucht bewusst worden: Erinnern wir uns doch einmal an die Gefühle - damals - als Kind: Die gespannte Erwartung, die mit jedem Lichtlein am Kranz größer wurde... Die wachsende Hoffnung auf etwas sehr, sehr Schönes... Die sich steigernde Erregung: Es kommt etwas Wunderbares auf uns zu... Wenn wir uns solchen Gedanken hingeben, stellt sich noch mehr ein als Gefühle. Selbst unsere Sinne können sich wieder erinnern: Der Duft von frischgebackenen Plätzchen, von Tannennadeln und Bratäpfeln, der Klang der Choräle in der Christmette, das sanfte Knirschen des Schnees unter den Füßen auf dem Heimweg von der Kirche, das Klingeling des Glöckchens, bevor wir in die Weihnachtsstube treten durften, der Glanz des Lichterbaums... Wie war das schön...damals! Aber - die Kindheit ist vergangen. Geblieben ist die Sehnsucht. Und jedes Jahr beschleicht sie uns neu: Noch einmal so fühlen können. Noch einmal so viel frohe Erwartung empfinden. Noch einmal sich so freuen können.

"Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr einander liebt, denn wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt."

Das ist ja wie ein Sprung ins kalte Wasser! Da mühen wir uns gerade um unsere adventlichen Empfindungen - und jetzt sowas: Schuld, Gesetz, Gebot... Wenn einem da nicht die Weihnachtsgefühle vergehen! Paulus platzt förmlich hinein in unsere gute Stube, wo sich gerade Kerzenschimmer und Tannenduft verbreiten wollten. "Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst", das ist ja sicher gut und wichtig, aber paßt das denn zum 1. Advent? Wir hören ein Gebot und hätten doch viel lieber etwas für unsere Gefühle getan, mit denen wir es doch schwer genug haben...

Es ist, als ob da jemand verhindern wollte, dass wir uns allzu sehr den Stimmungen hingeben. Es ist, als höbe einer warnend den Zeigefinger: Vergiss in deiner weihnachtlichen Freude nur nicht den Nächsten, der dich braucht. Lass dir vom Christbaum nicht den Blick auf den darbenden Bruder und die Schwester in Not verstellen. Sieh zu, dass der Schwall der Gefühle nicht deine Mitmenschlichkeit ersäuft. - Haben wir solche Warnungen nötig?

Folgen sie mir in Gedanken einmal drei Wochen zurück. Es ist der Martinstag, der 11. November. Der Kindergarten des Ortes feiert in der Dorfkirche einen kleinen Martinsgottesdienst. Bestimmt 80 Kinder sind da, viele Eltern und Großeltern. Besonders ein Ehepaar in den mittleren Jahren, wir wollen sie die Meiers nennen, fällt uns auf. Sie sind mit großer Freude dabei... Ihr Enkelkind spielt heute nämlich, während die Martinsgeschichte erzählt wird, den Heiligen, den freigebigen, warmherzigen Mann, der später Bischof der Armen geworden ist. Eben teilt der kleine Marc seinen Umhang, gibt ihn dem Bettler am Stadttor - und tut das mit einer solchen inneren Anteilnahme und Selbstverständlichkeit... Die Großmutter wischt sich ein Tränchen aus den Augen. Und auch der Großvater hat so ein Würgen im Hals. Ja, ihr Enkel! Sie haben mitgetan bei der Erziehung. Er ist ein guter Junge geworden. Was er da spielt, kommt von Herzen, ist echt und entspricht dem, was er innen fühlt. Später gibt's dann den Laternenumzug durch das Dorf. Hie und da ein Halt und ein Martinslied, auch wenn es bitterkalt ist an diesem Abend. Und dann wird im Kindergarten noch ein bisschen zusammengesessen. Man spricht über das Erlebte. Die Augen der Kinder strahlen, als sie zum warmen Tee noch ihr Martinsgebäck bekommen, den kleinen Kuchenmann mit den Rosinen als Knöpfen auf dem Bauch.

Als sie schließlich heimgehen - die Meiers wohnen zusammen mit der Tochter, ihrem Mann und dem Enkel in einem Haus - da geschieht, womit nun wirklich keiner gerechnet hat: Vor ihrem Haus steht ein vielleicht 70jähriger Mann. Sein Fahrrad hat er an den Torpfosten gelehnt. Seine Kleidung ist viel zu dünn für den bitterkalten Abend. Er wäre Schreiner von Beruf und seit fast einem Jahr "auf der Walz". Er hätte eigentlich heute noch weiter gewollt, aber dann wäre es so rasch dunkel geworden. Ob sie wohl ein Nachtquartier für ihn hätten, er wüsste einfach nicht, wohin er noch gehen sollte...und dann die Kälte... Die Meiers sehen sich an. Was sollen sie tun? Gewiss, in einem der Kellerräume hätten sie eine Möglichkeit einen Gast zu beherbergen. Aber das ist umständlich. Und dann: Ob man diesem Menschen trauen darf? Der Fremde sagt nichts mehr. Er sieht sie nur an, und er friert ganz offensichtlich. Da schauen die Meiers auf den kleinen Marc. Und auf einmal ist die Erinnerung wieder da... Das Martinsspiel in der Kirche, die Freude an ihrem Enkelkind, wie selbstverständlich der Kleine den Umhang geteilt hat... Und jetzt sehen die Meiers, wie ihr Enkel den Fremden lange anblickt...und dann wendet er sich mit fragenden Augen seinen Großeltern zu...

"Sieh zu, dass der Schwall der Gefühle nicht deine Mitmenschlichkeit ersäuft. Vergiss in deiner vorweihnachtlichen Erwartung, deiner Freude und der Sehnsucht nach einem Fest wie damals in der Kindheit nur nicht den Nächsten, der dich heute braucht."

Die Geschichte macht's deutlich: Gefühle sind nicht das wichtigste! Was uns das Herz wärmt, die Augen leuchten lässt und uns in die "rechte" Festtagsstimmung versetzt, ist nicht die Hauptsache! Vielleicht lässt sich das von daher nun doch hören, wenn Paulus uns heute sagt: "Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr einander liebt; denn wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt."

Vielleicht lassen wir uns das gerade heute am 1. Adventssonntag sagen - ehe die weihnachtlichen Gefühle uns überwältigen. Denn wirklich, mit Gefühlen ist das so eine Sache: Sie machen sich gern selbstständig und breit, werden groß und größer und gewinnen Macht über unser Herz, über unser Wollen, Denken und Handeln. Da erkennt einer dann durch die tränenfeuchten Augen nicht mehr die Not vor seiner Tür. Da vergisst einer vor Rührung über das Martins- oder das Krippenspiel der Kinder die anderen Kinder in der 3. Welt, die nichts zu essen haben. Da singt einer mit Hingabe am Christtag in der Kirche Friedenslieder - und schafft's zu Hause nicht, auch nur mit dem Nachbarn Frieden zu machen.

Liebe Gemeinde, natürlich gehören die Empfindungen dazu. Aber ihr Platz ist da, wo sie der Hauptsache der Weihnacht dienen: Der Liebe! Denn um Liebe geht's bei diesen Fest. Die Liebe Gottes wird in Jesus Mensch. Gott selbst verbirgt sich seitdem im Antlitz jedes Menschen - auch des geringsten. Und seitdem gilt auch das: Liebe deinen Nächsten - wie Gott dich zuerst geliebt hat.

Gefühle können uns helfen, diese Liebe zu lernen. Sie können unser Herz für den Mitmenschen öffnen, unsere Schritte zu ihm lenken, unsere Hände für ihn auftun. Ersatz für die Liebe sind sie nicht. - Ich wünsche uns solche Gefühle, die der Liebe dienen!

Wie die Geschichte vom Martinstag ausgegangen ist? - Die Meiers haben dem Fremden in ihrem Keller ein Nachtlager bereitet. Der kleine Marc war sehr glücklich und ein bisschen stolz auf Oma und Opa. Und irgendwie hat er auch gespürt, dass ihm der fahrende Schreiner an diesem Tag schon einmal begegnet war: Beim Martinsspiel in der Kirche.