1. Predigt zum Reformationsfest - 4.11.2001

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1. Textlesung: Jes. 62, 6 - 7. 10 - 12

O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, laßt ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden! Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! Siehe, der HERR läßt es hören bis an die Enden der Erde: Saget der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des HERRN«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«.

Liebe Gemeinde!

Ein seltsamer Text zum Reformationsfest! Erst einmal: Er stammt aus dem Alten Testament! Dann sind es Worte an das Volk Israel in der Gefangenschaft. Von Jesus Christus natürlich kein Wort, nicht einmal ein Hinweis auf ihn. Und schließlich eine bildhafte Sprache, die wir kaum verstehen. Beim ersten Hören schon gar nicht.

Wo ist da der Gedanke an "Reformation"? Wo ist hier Luthers Entdeckung, daß der gerechte Gott auch ein gnädiger Gott ist? Wo ist das Evangelium von der geschenkten Gnade an den Sünder um Jesu Christi willen?

So etwa habe ich beim ersten Lesen dieser Worte gedacht, die uns für heute verordnet sind. Dann habe ich mit dem ersten Satz noch einmal angefangen. Ich will ihn auch für sie noch einmal lesen

2. Textlesung: Jes. 62, 6 - 7

O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, laßt ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden!

Ja, auf einmal wußte ich, wo der Bezug zum Reformationsfest ist! Schon der allererste Satz ist dieser Bezug: O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Wächter... Mir fiel Martin Luther ein. Er war so ein Wächter. In einer gewiß völlig anderen Zeit hat er die Menschen vor dem Einbruch der Feinde in die Stadt des christlichen Glaubens gewarnt. Der "Ablaßhandel" war damals so ein Feind. Dieser Feind kam so daher: "Wenn ihr nur Geld bezahlt, wenn ihr einen Ablaßbrief kauft, dann könnt ihr alle Schuld und Sündenstrafen loswerden. Selbst von noch nicht begangenen Sünden könnt ihr euch vorher loskaufen. Und den Vater oder eure Großmutter, die in der Hölle sitzen, könnt ihr auch mit Geld befreien!"

Der "Wächter" Martin Luther hat mit seinen 95 Thesen Alarm geschlagen. "Schuld und Sünde werden wir nur durch wahre Buße los. Gott verlangt keine Geldzahlung, sondern ein reuiges Herz. Er ist gnädig. Der gekreuzigte Christus ist unser Lösegeld. Auf ihn sollen wir vertrauen!"

Wie gesagt: Das war eine völlig andere Zeit. Aber Wächter für die Stadt des Glaubens werden zu allen Zeiten gebraucht. Ich meine sogar, heute mehr denn je! Gerade die Mauern um unseren Evangelischen Glauben werden von allen Seiten berannt. Ja, manche der Feinde sitzen schon längst innerhalb der Stadtmauern und tun dort völlig ungehindert ihr zerstörerisches Werk.

Bevor ich ein paar dieser Feinde nenne, noch eine Ortsbestimmung dieser "Stadt des Glaubens": Ich meine nicht die Kirche! Selbst wenn die ganze Kirche unterginge, könnte ja der Glaube der Christen noch bestehen. Wenn allerdings der Glaube erst verloren ist, dann ist alles verloren, der Halt im Leben und im Sterben, die Zukunft, die Hoffnung - und dann auch die Kirche. Nein, ich meine diese Stadt, auf deren Mauern Luther zuerst gewacht hat und über deren Toren steht: "Wir sind vor Gott gerecht und erlöst allein aus Glauben, allein durch Jesus Christus, allein weil Gott gnädig ist und uns liebt." Vor diesem Tor und innerhalb dieser Mauern stehen die Feinde. Hier sind ein paar Namen und Beschreibungen der feindlichen Mächte unserer Tage:

Da ist zuerst die Gleichgültigkeit. Wen interessiert der Glaube eigentlich noch? Wohlgemerkt: Ich meine den gelebten, sichtbaren, hörbaren und darum glaubhaften Glauben an Jesus Christus. Nicht den Namen "Christ", den die meisten tragen. (Ich kann ja wohl auch Mitglied im Sport- und Gesangverein sein und gehe doch nie hin!) Nein, gleichgültig ist die große Masse der Christen unserer Tage. Man heißt zwar "Christ", aber das hat im Leben keinerlei Konsequenzen.

Hier ein Beispiel dafür: Klar, die Kinder werden getauft und konfirmiert. Aber doch nicht in erster Linie deshalb, daß diese Kinder auch von dem erfahren, was den Eltern irgendwie bedeutsam und wichtig wäre. Doch nicht, weil sie auch wissen sollen, daß allein Jesus das Leben erfüllen und zu einem ewigen Ziel bringen kann.

Ein anderer Feind ist die Trägheit. Wenn ich höre, und es wird ja immer wieder gern erzählt, was frühere Generationen von Christen (- hier in unseren Dörfern -) an Fußmärschen, an Anstrengungen, an Verzicht auf anderes auf sich genommen haben, um etwa einen Gottesdienst oder einen Gemeindeabend (im Nachbardorf) zu erreichen! Auch der Buß- und Bettag des vergangenen Jahres hat es wieder gezeigt: Es ist schon ein zu großer Aufwand, auch nur zur Bushaltestelle zu gehen, um doch einigermaßen bequem in den Nachbarort zu fahren! So werden nach und nach immer mehr Gelegenheiten verschwinden, daß die Christen sich versammeln und in ihrem Glauben gestärkt werden. Schon der Gottesdienst im eigenen Ort, der Besuch der Kirche, die 200 Meter entfernt ist, fällt vielen Menschen unserer Zeit ungeheuer schwer - und wenn es nur einmal im Halbjahr wäre.

Ein weiterer Feind der Stadt des Glaubens ist die Undankbarkeit. Wie viele Versprechen, dies und das zu tun, nachdem uns Gott aus einer schlimmen Zeit geführt oder vor Schaden und Unfall wunderbar bewahrt hat, sind wohl allein schon in unserem Dorf unerfüllt geblieben? Wie viele Menschen tun lange Jahre einen aufreibenden Pflegedienst an ihren Eltern, ohne je ein Dankeschön zu hören? Wie viele Kinder, schon lange erwachsene Kinder darunter, kämen niemals auf die Idee - nicht einmal am Muttertag - ihrer Mutter auch einmal dafür zu danken, daß sie ihr Zimmer in Ordnung hält, ihnen kocht, die Wäsche wäscht und bügelt. Und wie sehr sind unsere anderen Beziehungen von Kritik, Nörgelei, Beschwerde und Vorwurf bestimmt - und wie wenig vom Dank!? Auf solche Herzen jedenfalls trifft dann die Botschaft von Gottes geschenkter Gnade, von seiner Liebe, die keine Leistungen will und nicht verdient werden muß. Wen wundert es, daß Menschen, die nicht mehr danken wollen und oft nicht mehr können, dann ohne zu verstehen auf das Kreuz Jesu schauen und nicht mehr begreifen, was das mit ihnen zu tun haben soll?

Noch viele Feinde der Stadt des Glaubens gibt es. Beginnen wir damit, als Wächter dieser Stadt, nur aufmerksamer als bisher nach diesen drei Ausschau zu halten: Der Gleichgültigkeit, der Trägheit, der Undankbarkeit! Schauen wir nicht nur dorthin, wo wir die Zeichen dieser Feinde bei anderen entdecken! Wir selbst werden und sind auch schon angegriffen von ihnen. Es wäre schon gut, wenn wir den Wächterdienst aufnehmen. Daß wir laut und vernehmlich ins Horn blasen, wenn wir dieser Feinde ansichtig werden. Einmal nicht im Bild gesprochen: Daß wir denen, die doch Christen heißen, an deren Leben allerdings niemand noch den kleinsten Hinweis darauf ablesen kann, das einfach einmal sagen: "Du willst doch ein Christ sein, woran merkt man das bei dir eigentlich noch?" - Daß wir denen, die mit ihrer ewigen Lustlosigkeit, ihrem Aufschieben immer wieder und ihrer beharrlichen Trägheit dafür sorgen, daß nach und nach alles gute und wichtige Gemeindeleben dahinkränkelt und schließlich stirbt, einmal klar machen, wie das mit ihnen zu tun hat. Z.B. so: Wenn die Kirche auch weiter gegen die Abschaffung des Buß- und Bettags auftreten soll, dann kann ihre Stimme nur dann gehört werden, wenn du sie auch unterstützt und den Gottesdienst an diesem Tag besuchst! - Und daß wir schließlich denen, die nicht danken können, einmal sagen: "Freust du dich eigentlich an dem, was ich täglich für dich tue?" Stören wir uns einmal nicht an dem verständnislosen Blick, den wir erst erhalten. Vielleicht kommt da ein Nachdenken in Gang, ein Besinnen, ein erster Gedanke in die richtige Richtung... Und natürlich wird gerade hier unser gutes Vorbild auch viel ausrichten können: Wenn auch wir selbst mehr als bisher die vielen Gründe zum Danken wahrnehmen und diesen Dank wirklich aussprechen.

Liebe Gemeinde, wenn wir uns heute nur innerlich dazu bereit erklären würden, Wächter gegen diese drei Feinde der Stadt des Glaubens zu sein: Gleichgültigkeit, Trägheit, Undankbarkeit... Dann hätte uns dieser alte Text eine wichtige Hilfe dazu gegeben, was "Reformation" heute bedeutet: Allem entschieden entgegenzutreten, was uns von dieser Wahrheit abbringen oder sie uns verdunkeln will: "Wir sind vor Gott gerecht und erlöst allein aus Glauben, allein durch Jesus Christus, allein weil Gott gnädig ist und uns liebt."