Predigt zum 8. Sonntag nach Trinitatis - 11.8.2019

Textlesung: Jh. 9, 1 - 7

Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden. Und er sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah - das heißt übersetzt: gesandt - und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.

Liebe Gemeinde!
Wir wollen einmal ganz offen sein und ganz ehrlich: Selten war uns eine Frage, wie sie in einer Geschichte der Bibel gestellt wird, näher als diese! Wollen wir nicht auch immer wieder gern wissen, warum es diesem so, jenem dagegen so ergeht? Und machen wir es uns dabei nicht auch oft so leicht, wie die Jünger hier: Ein Mensch wird krank - dann muss er sich das irgendwie zugezogen haben. Einer gerät ins Unglück - dann fragen wir gleich nach der Schuld, die er auf sich geladen hat. Und wenn einer arm oder als Außenseiter der Gesellschaft sein Leben fristen muss, dann wird es auch dafür einen guten Grund in seinem persönlichen Leben geben, auch wenn wir den nicht immer wissen. - Das ist aber nur die eine Seite unseres Denkens, die hat mehr mit unserem Gefühl, unserem „Bauch" zu tun, wie wir heute gern sagen.

Auf der anderen Seite wissen wir mit unserem Kopf, dass es eigentlich nicht so ist: Was kann der Arbeitslose dafür, wenn seine Firma dicht macht? Soll das Kind schuld sein, das vom Wagen eines alkoholisierten Autofahrers erfasst wird? Vollends ans Ende dieser Gedanken geraten wir, wenn wir Menschen sehen, die von Geburt an schwer behindert und ihr ganzes Leben davon beeinträchtigt und damit belastet sind. - Nein, das ist nicht so einfach, auch wenn wir es gern so hätten. Aber wie ist es? Wie können wir uns erklären, wenn Menschen leiden müssen, wenn sie mehr auferlegt bekommen als andere, ja, wenn ihr ganzes Leben nur Leiden, Krankheit und Beschwerde ist?

Das genau ist auch die Frage der Jünger, als sie den Blindgeborenen sehen: „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?" Einer muss doch die Schuld dafür tragen? Wenn dieser Mensch schon blind auf die Welt kam, dann müssen eben sein Vater oder seine Mutter die Sünde getan haben, die an ihrem Sohn heimgesucht wird.

Jesus verbietet dieses Denken: „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern!" Er erklärt ganz anders, dass hier ein Mensch blind ist, und er würde das gewiss auch von anderen sagen, deren Schicksal wir immer gern mit ihrem Tun und Lassen und gar ihrer Schuld begründen wollen: „Es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm." Ob die Jünger nun zufrieden waren? Wir wissen es nicht. - Aber sind wir zufrieden mit dieser Auskunft?

Nun, wir können jetzt sagen: Den Blindgeborenen damals hat Jesus ja geheilt. An ihm hat er ja erfüllt, was er hier als den Sinn dieser Blindheit beschreibt: An diesem einen sind Gottes Werke offenbar geworden. - Aber was ist mit den anderen? Wie können wir erklären und begreifen, wenn so viele Menschen in unserer Zeit krank und behindert sein müssen? Wie werden wir damit fertig, wenn sie ganz in unserer Nähe leben und leiden, wir ihnen so gern helfen möchten und es doch nicht können?

Liebe Gemeinde, das sind sehr tiefe, sehr gewichtige Fragen und es hängen auch sehr viele Gefühle daran; leicht versteht man etwas falsch, schnell ist einer verletzt und fühlt sich mit dem Kummer, der mit diesen Fragen verbunden ist, nicht ernstgenommen. Wir wollen also sehr behutsam sein und diese Dinge nicht zu grob anfassen. Vielleicht führt es uns weiter, wenn wir uns einmal das konkrete Schicksal eines Menschen vor Augen führen und wenn wir dabei auch schauen, wie sein Geschick mit dem der anderen Menschen zusammenhängt, die in seiner Nähe leben.

Der Mensch, von dem ich erzähle, ist heute 20 Jahre alt, schwerstbehindert von Kindheit an. Kurz nach der Geburt ist das gewesen, dass den Eltern eine Welt zusammenbrach. Sie haben es erfahren und mussten es verarbeiten: Euer Junge wird nie so sein wie andere. Er wird niemals sehen können, nicht hören und nicht laufen. Er wird eure Liebe auf eine harte Probe stellen und eurer Aufwartung und Zuwendung immer bedürftig sein. Euer Kind, wenn es überhaupt das Jugendalter erreicht, wird nie erwachsen werden, nie selbständig und unabhängig von euch. Es wird, solange es lebt, von euch leben, eure ganze Kraft brauchen, eure Zeit, eure Pflege...

Vielleicht haben diese Eltern auch gefragt, womit sie das verdient haben. Vielleicht wollten sie auch einmal von Gott wissen, wo sie denn gesündigt haben, dass er ihnen so etwas auferlegt. Aber nur am Anfang. Bald haben sie gemerkt, wie sehr sie dieser behinderte Junge braucht, fordert und sie sind gar nicht mehr zum Nachdenken über das Warum gekommen. Aber irgendwann haben sie auch ganz bewusst aufgehört, so zu fragen. Und nicht, weil sie ja doch keine Antwort bekommen hätten, sondern auch deshalb, weil sie viele gute, wichtige Erfahrungen mit ihrem Kind gemacht haben. Ihr Kind konnte nicht sehen - und doch hat es irgendwann zum ersten Mal gelächelt. Es konnte sie nicht hören - und sein Mund hat doch eigene Laute geformt. Zwar musste der Junge immer im Rollstuhl sitzen und den ganzen Tag über betreut werden, aber es war doch ein inniges Verhältnis, das nicht nur das Kind zufrieden zu machen schien, sondern auch den Eltern viel Glück schenkte. Ja, vielleicht kann man es so ausdrücken: Die Entwicklung war stark verzögert, machte nur sehr kleine Fortschritte und kam auch schon früh an ihr Ende, aber umso größer war die Freude über den kleinsten Schritt nach vorn, die geringste Verbesserung des Allgemeinzustands und die zuerst nur ganz zaghafte Kontaktaufnahme mit Vater und Mutter.

Heute ist der Junge 20. Die Eltern sind da ganz sicher, er lebt gern, auch wenn er das nicht sagen kann. Er drückt es anders aus. Er hat seine ganz eigene Sprache entwickelt und sie verstehen ihn. Gewiss wünschten die Eltern ihrem Kind, dass es gesund wäre und so leben könnte, wie andere Menschen auch. Aber sie hadern nicht mit Gott, sie fühlen sich nicht von ihm vergessen oder verlassen oder gar bestraft. Im Gegenteil. Weder das Geschick des Sohnes noch ihr eigenes erscheint ihnen heute arm oder beklagenswert.

Liebe Gemeinde, ob hier nicht zum Ausdruck kommt, was Jesus meint: „Es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm."? - Zu einem gesunden Kind wird sich jeder Vater und jede Mutter hingezogen fühlen? Eine normale Entwicklung begleitet jeder gern. Für Kinder, die irgendwann selbständig und erwachsen werden, haben wir als Eltern alle genug Kraft. Aber für solch ein Kind? Wenn wir immer weiter, unser Leben lang für ein Kind da sein müssen, wenn das nie aufhört mit der Pflege und ein Mensch gar keine Fortschritte mehr macht und wir immer gewärtig sein müssen, dass alles vergeblich war? Da sehen wir die „Werke Gottes"! Denn Menschen aus sich selbst heraus können so viel nicht aufbringen: Nicht so viel Kraft, nicht so viel Geduld, nicht so viel Liebe.

Vielleicht sagen wir jetzt zu meiner Geschichte: Es ist doch aber ein schweres Schicksal! Und wir müssen ja auch weiter fragen, warum und woher das kommt und wieso es gerade diese Eltern getroffen hat. Aber beachten wir dies: Die Menschen, die betroffen sind, in diesem Fall die Eltern des Jungen, die fragen nicht mehr so. Es scheint also eine sehr persönliche Frage zu sein - und wir bekommen wohl auch immer persönlich Antwort. Und vor allem: Auch noch das schwerste Geschick muss uns nicht von Gott trennen. Es schenkt uns vielmehr auch Erfahrungen, die denen wohl immer verschlossen bleiben, deren Leben leicht und ohne dunkle Wegstrecken ist.

Und trotzdem: Es bleibt ein Rest, der nicht aufgeht! Jedenfalls wenn wir ein solches Schicksal, wie ich es beschrieben habe und wie wir es ähnlich sicher alle kennen, ansehen. Dieser Rest heißt: Gibt es denn wirklich keinen anderen Ausgleich für ein so schweres Leben, wie es ein behinderter Mensch, aber auch alle haben, die für ihn da sind, ihn pflegen, ihm sein Geschick tragen helfen? Haben diese Menschen denn wirklich nur diesen „Lohn", dass sie Gottes Nähe in ihrer schweren Zeit spüren und vielleicht fühlen, dass durch sie „Gottes Werke offenbar werden" und sie auch immer wieder die nötige Kraft und Liebe bekommen?

Hier wollen wir noch einmal auf Jesu Worte hören: „Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt." Ich lese hier zwei wichtige Hinweise: Einmal ist das ja einfach wahr, wir haben nur eine begrenzte Zeit in dieser Welt. Vielleicht sagen einige dazu: Leider ist es so! Andere aber - und die Leidenden und die Menschen, die anderen aufwarten und sie pflegen, gehören sicher hinzu - andere aber sagen vielleicht: Gott sei Dank, ist die Weltzeit einmal zu Ende, denn wie ihr Schicksal nun einmal ist, haben sie auch nicht viel Schönes in ihren Tagen, sind vielmehr sehr geplagt und sehnen sich oft nach einem Ende all ihres Jammers.

Aber - und das ist der zweite Hinweis in Jesu Worten - sie dürfen ja auch das noch sagen: Nach diesem Leben kommt eine neue, eine bessere Welt, ohne Leid und Krankheit, ohne Behinderung und Gebrechen, ohne Kummer und Not! Und ich finde das nicht billig oder kindlich und mit Vertröstung hat es schon gar nichts zu tun! Vielmehr ist es die festeste Verheißung Gottes. Und es ist der gewisseste Trost aller, die in diesem Leben schwere Zeiten und dunkle Jahre haben.

„Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt", sagt Jesus. Den Blindgeborenen damals hat Jesus geheilt, denn er war noch in dieser Welt, ein Mensch unter Menschen. Nun aber ist er in der anderen Welt Gottes und wir müssen seine Werke hier und heute wirken und damit die Werke Gottes. Wir verstehen nicht alles um diese schwierigen Fragen. Wir können auch das Warum angesichts schwerer Krankheit und jahrzehntelangen Leidens vielleicht unser Leben lang nicht loswerden. Dennoch sind wir mit schwerem Leid vor Augen auch immer Zeugen dafür, dass Gott Menschen fähig macht, seine Werke in dieser Welt zu vollbringen. Und ein für alle Mal gilt dies: Es hat mit eigener Schuld oder mit der Sünde der Eltern oder irgendwelcher anderer Menschen nichts zu tun, wenn manche Menschen ein schweres Schicksal auferlegt bekommen. Es liegt vielmehr ein großer Glanz gerade auf dem schweren Geschick und ein spürbarer Segen auf denen, die anderen in Leid, Krankheit und Behinderung beistehen. Ihnen ist besonders verheißen, dass einmal Licht wird, was heute noch dunkel ist. Und eine Antwort auf all ihre Fragen werden sie auch bekommen. AMEN